Nicht mit und nicht ohne

Vom Glück der lässlichen Sünde: Überlegungen zur Kultur der Zweideutigkeit in einer Gesellschaft, die immer mehr Extreme und Schwarz-Weiss fordert. Ein Beitrag von Rolf Bossart aus unserem Februarheft zum Thema #guiltypleasures.
Von  Gastbeitrag
Die Beichtstühle zum Titelthema hat Till Forrer fotografiert.

Ambiguitätstoleranz ist die Fähigkeit, Zweideutiges und Mehrdeutiges auszuhalten und manchmal sogar zu geniessen. Sie ist ein kostbares Gut. Die pädagogischen Initiativen, diese in der Schule zu fördern oder die offensichtliche Erstarkung extremer Positionen in allerlei Diskursen legen den Schluss nahe, dass es sich dabei auch um ein zunehmend knappes Gut handelt. Was aber hat es so knapp gemacht?

Ein Hauptproblem ist natürlich der gesteigerte Bedarf in sogenannt pluralistischen Gesellschaften, ein anderes die Technisierung des sozialen Lebens. Ermutigt durch die technischen Erfolge in der Alltagsgestaltung, neigt man dazu, die Lösung eines sozialen Problems nicht mehr primär als Ausnahme, sondern als Regelfall zu sehen, was die Tugend der Geduld und die Praxis des Aushaltens zunehmend unattraktiv machen. Wer Lösungen will, muss die Probleme so zurechtmachen, dass sie lösbar sind. Das bedeutet, dass Zweideutigkeit in Eindeutigkeit, Sowohl-als-auch- in Entweder-oder-Situationen transformiert werden müssen. Die durch Technik ermöglichte Perfektionierung des Lebens hat eine herrschsüchtige Schlagseite.

Unter der gleissenden Sonne der Lösungsorientierung muss die Migrationspolitik Gesetze hervorbringen, die Grenz- und Sonderfälle verhindern, müssen die Schulen Unterricht betreiben, der messbar ist, muss die Verwaltung sich wasserdicht machen gegen Ausnahmen. Was Lust macht, darf nicht ein bisschen verboten sein, was die Bösen wollen, kann nicht ein bisschen gut, was die Guten fordern, nicht ein wenig böse, und ich selber darf nicht zweideutig sein, wenn ich mich nicht hassen soll.

Skrupel und Scham

Das Skrupulöse – das eine zwar zu tun, das andere aber besser zu finden – spaltet sich auf der einen Seite ins Puristische: nichts zu tun, was man nicht eindeutig gut findet, und auf der andern Seite ins Hedonistische: das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Aber Ambiguität gibt es nur über Skrupel, über Scham, über das Aushalten der eigenen Lächerlichkeit. Und alle sozialen Tugenden wie Treue, Solidarität, Kollegialität, Loyalität – wobei natürlich viel zu sagen wäre zu den unterschiedlichen Ambiguitätsstärkegraden dieser Begriffe und weshalb sie wo gebräuchlicher sind – verlangen letztlich fast immer, dass man etwas tut beziehungsweise unterlässt um der einen Sache willen, die man eigentlich sonst vermeiden beziehungsweise gutheissen würde. Und es scheint, dass die hohe Aufladung dieser Begriffe mancherorts umgekehrt proportional zu ihrer gelebten Praxis erfolgt.

Die glückliche Fähigkeit, eine Ablehnung zu erleiden oder nur schon eine fehlende Wertschätzung, ohne gleich an Selbstwertverlust denken zu müssen, besitzt nur, wer Eltern hatte, die sich die lässliche Sünde gestatteten, bei voller Liebe zum Kind auch mal die Türe symbolisch und real zuzuschlagen, und zwar im Wissen, dass man das nicht tun sollte, aber trotzdem ohne das Kind hinterher mit einer mit schlechtem Gewissen getränkten Wiedergutmachung zu ersäufen, dafür vielleicht mit einer kleinlauten, allmählichen Milde, mit stillen Gesten der Versöhnung usw. Etwas, das man nur kann, wenn man erkannt hat, dass das Gute angesichts des Schwierigen oft nicht in dessen Lösung, Vermeidung oder schon gar nicht Annahme besteht, sondern in einer schamhaften, skrupulösen, grimmigen oder humorvollen Haltung zum Falschen, das einem halt irgendwie anhaftet. Wobei letztere zwar viel gerühmt wird aber schwieriger ist als gedacht.

Die Hintertürchen der Religionen

Ein Trainingsgelände für Ambiguität findet sich in den Spitzfindigkeiten theologischer Reflexionen und Praxis über die oft unmöglichen Verbote und Gebote der Religion.

Im Islam findet sich zum Beispiel das von den Fundamentalisten ungeliebte Konzept «makruh». Als makruh, «verpönt», werden Handlungen beschrieben, die nicht ausdrücklich verboten, deren Unterlassung aber dennoch segensreich ist. Da sie aber nicht zu einem entscheidenden Heils-Schaden führen, verschaffen sie einem in einer restriktiven Gesellschaft eine gewisse kritische Distanz, ohne gleich völlig auf Konfrontation gehen zu müssen.

Das katholische Milieu kannte Dutzende solcher Praktiken. Erinnert sei nur an die rauchenden Männer am Sonntag vor der Kirche. Den Gottesdienst wirklich mitzumachen, war ihnen zu blöd, aber sich deswegen direkt in der Beiz zu treffen, kam nicht in Frage. Und was war das für eine Lust, sich am fleischfreien Freitag in der Küche zu versammeln und 49 Gramm Schinken abzuwägen, weil der Katechismus das Vergehen erst ab 50 Gramm nicht mehr als lässliche Sünde, die man nicht beichten musste, einstufte. Ein Heidenspass, der es einem erlaubte, gleichzeitig das Verbot einzuhalten und es der Lächerlichkeit preiszugeben, die eigene noch gratis inbegriffen.

Makruh und lässliche Sünden gibt es nur, wo es Verbote gibt. Deswegen jetzt Moral und schlechtes Gewissen gut zu finden, wäre auch übertrieben, aber ohne sie werden wir zu unrealistischen, weil die Zweideutigkeiten der Dinge verleugnenden Menschen. Überall nur noch «Geiz ist geil» und «Du bist ok, ich bin ok» zu rufen, ist keine Lösung. Besser, man antwortet auf die Killerfrage der widerspruchsfreien Gesellen, warum man denn etwas mache, wenn man es doch eigentlich kritisiere oder nicht möchte: «Eben darum, weil ich nicht mit und nicht ohne leben will.»

Rolf Bossart, 1970, ist Lehrer, Theologe und Publizist. Dieser Beitrag erschien im Febraurheft von Saiten.