Die Geschichte soll sich weder wiederholen noch reimen. Zumindest was die Fehler der Menschheit betrifft. Das Tanzstück Oresteia reflektiert dies auf multimedialen Ebenen. Trotzdem scheinen uns die Schatten unserer Vergangenheit noch immer auf Schritt und Tritt zu verfolgen. Wegrennen ist aussichtslos. Können wir vergeben? Rache scheint erstmals die süssere Wahl zu sein.
Diese archaische Blutspur geht in der Tragödien-Trilogie zurück bis zu Agamemnon, König von Mykene. Als Schattenspiel auf die grosse Leinwand projiziert, wird die unheilsame Vorgeschichte theatralisch, fast schon plakativ, skizziert. Die Geisterhaftigkeit des Anfangs lässt rückblickend den Auftritt der Erinnyen, der Rachegöttinen, vorausahnen. Sie bringen Qual und Schmerz über den zweiten Akt.
Durch die Videoprojektionen (Rubén Darío Bañol Herrera) konnten sich die Tänzer:innen in vieldeutiger Bewegungssprache von der Leinwand und teils auch den mythologischen Figuren loslösen und tiefer in eigene fundamentale Konflikte steigen. Körper voller Widersprüche, die sich mal vereinen, mal aufeinanderprallen.
Wo Licht ist, ist auch Schatten
Die anspruchsvolle Choreografie von Frank Fannar Pedersen und Javier Rodríguez Cobos strebt unter «freiem Himmel» nach Gleichgewicht, Gleichberechtigung und Gemeinschaft und lässt die Tänzer:innen immer wieder an unterschiedlichsten Figurationen scheitern, mit Resilienz bis zum bitteren Ende. Die Körper werden auf der Bühne zu subversiven Resonanzräumen aktueller Fragen. Damit gelingt ein zeitgenössischer Zugang zum antiken Stoff, der angesichts der globalen Konflikte erschreckende Parallelen aufweist.
Die spannungsreichen Sound-Fusionen (Alejandro Da Rocha) und das imposante Lichtdesign (Lukas Marian) verstärken diese noch. Alle Elemente kreieren nahezu gleichberechtigt ein inszenatorisches Meisterwerk zwischen Chaos und göttlicher Ordnung!
Besonders verbindend wirkt nebst dem Chor als unsichtbare Instanz, auch der Gesang einer Tänzerin (Ariadni Toumpeki), die mit kraftvoller, warmer Stimme unbändigen Mut schöpft. So setzt die zeitgenössische Performance symbolisch ein Zeichen für die Demokratie. Dass die hierarchischen Machtstrukturen in der Tragödie aber erstmals dekonstruiert werden müssen, bevor eine gerechte, versöhnliche Abstimmung an die Stelle von Blutrache treten kann, wird durch mehrere Treppen-Elemente demonstriert.
An antikes Ruinengestein erinnernd werden sie von den Tänzer:innen als dynamische Objekte durch den ganzen Bühnenraum bewegt. Mal scheinen sie Karriereleiter, mal Stolpersteine, mal Metapher für Geschlechterkonflikte. Eine neue (An-)Ordnung kann zu einer unüberwindbaren Hürde werden, eine gespaltene Pyramidenkonstruktion als Sinnbild für Gewaltenteilung.

Die Treppe wird zum metaphorischen Element. (Bild: pd/Theater St.Gallen)
Frisch aus dem Ei geschlüpft
Die Vielschichtigkeit und Komplexität der verschiedenen Szenen wird durch einen überhängenden Lichtkreis intensiviert. So wird der ganze Bühnenraum von der Ästhetik des Schreckens eingenommen: Auf einmal stockt der Atem, die Stimmen im Kopf werden unerträglich – und der Zyklus der Qual wird durchbrochen. Totaler Reset. Katharsis tritt ein. Ein Moment, der noch lange nachhallt.
Die Tänzer:innen werden für einen kurzen Moment selbst zu Zuschauenden und bewundern die Geburt eines neuen Systems. Das rachsüchtige Rot und die Schatten der Vergangenheit werden im Nebelhauch aus rieselndem Wasser reingewaschen, die Kostüme (Bregje van Balen) zurückgesetzt auf weiss. Die Individualität bleibt trotzdem bestehen. Mit ehrfürchtiger Achtsamkeit suchen die Tänzer:innen in der Gruppe nach neuem Vertrauen, nach Transparenz, nach Toleranz. Und am Ende erinnert uns ein skulpturales Pas de deux an die nackte Wahrheit: an die Ehrfurcht und Demut unserer eigenen menschlichen Natur und die Notwendigkeit der Erlösung. Ein Traum? Eine Utopie? Das ist eine Frage der Perspektive. Wirkt ein bisschen wie im Film. Das ist aber eine Frage der Perspektive, je nachdem, welche Konstellation die «Taschenlampe» gerade beleuchtet und zum Leben erweckt.

Die Katharsis tritt ein. (Bild: pd/Theater St.Gallen)
Mit höchst verdientem Applaus wird das Tanzstück an der Premiere gefeiert. Die Choreografie öffnet Augen und erinnert uns an unser fragiles Zusammenleben und die brutalen Konsequenzen fehlender Gerechtigkeit. Die entscheidende Frage bleibt: Können wir vergeben, ohne zu vergessen? Die Performance tanzt uns einen möglichen Weg frei und überwindet Hürden für neue Denkräume. Doch will das die Menschheit auch? Die Hoffnung stirbt zuletzt. Und das Tanzstück prophezeit: «Ein Schiff wird kommen»!
Oresteia, Theater St.Gallen, nächste Vorstellung am 22. April, weitere Vorstellungen bis Juni.