Neues Licht auf griechische Tragödie

 Ariadni Toumpeki (Mitte) umgeben von tanzenden Körpern. (Bild: pd/ Theater St.Gallen)

Katharsis durch brutale Performance: Die Tanzkompanie St.Gallen feierte letzten Donnerstag Premiere im Grossen Haus mit Aischylos’ Oresteia. Ein zeitgenössischer Balanceakt zwischen archaischer Gewaltspirale und fragilem Neuanfang.

Die Ge­schich­te soll sich we­der wie­der­ho­len noch rei­men. Zu­min­dest was die Feh­ler der Mensch­heit be­trifft. Das Tanz­stück Ores­teia re­flek­tiert dies auf mul­ti­me­dia­len Ebe­nen. Trotz­dem schei­nen uns die Schat­ten un­se­rer Ver­gan­gen­heit noch im­mer auf Schritt und Tritt zu ver­fol­gen. Weg­ren­nen ist aus­sichts­los. Kön­nen wir ver­ge­ben? Ra­che scheint erst­mals die süs­se­re Wahl zu sein. 

Die­se ar­chai­sche Blut­spur geht in der Tra­gö­di­en-Tri­lo­gie zu­rück bis zu Aga­mem­non, Kö­nig von My­ke­ne. Als Schat­ten­spiel auf die gros­se Lein­wand pro­ji­ziert, wird die un­heil­sa­me Vor­ge­schich­te thea­tra­lisch, fast schon pla­ka­tiv, skiz­ziert. Die Geis­ter­haf­tig­keit des An­fangs lässt rück­bli­ckend den Auf­tritt der Er­in­ny­en, der Ra­che­göt­ti­nen, vor­aus­ah­nen. Sie brin­gen Qual und Schmerz über den zwei­ten Akt. 

Durch die Vi­deo­pro­jek­tio­nen (Ru­bén Darío Ba­ñol Her­rera) konn­ten sich die Tän­zer:in­nen in viel­deu­ti­ger Be­we­gungs­spra­che von der Lein­wand und teils auch den my­tho­lo­gi­schen Fi­gu­ren los­lö­sen und tie­fer in ei­ge­ne fun­da­men­ta­le Kon­flik­te stei­gen. Kör­per vol­ler Wi­der­sprü­che, die sich mal ver­ei­nen, mal auf­ein­an­der­pral­len. 

Wo Licht ist, ist auch Schat­ten

Die an­spruchs­vol­le Cho­reo­gra­fie von Frank Fan­nar Pe­der­sen und Ja­vier Ro­drí­guez Co­bos strebt un­ter «frei­em Him­mel» nach Gleich­ge­wicht, Gleich­be­rech­ti­gung und Ge­mein­schaft und lässt die Tän­zer:in­nen im­mer wie­der an un­ter­schied­lichs­ten Fi­gu­ra­tio­nen schei­tern, mit Re­si­li­enz bis zum bit­te­ren En­de. Die Kör­per wer­den auf der Büh­ne zu sub­ver­si­ven Re­so­nanz­räu­men ak­tu­el­ler Fra­gen. Da­mit ge­lingt ein zeit­ge­nös­si­scher Zu­gang zum an­ti­ken Stoff, der an­ge­sichts der glo­ba­len Kon­flik­te er­schre­cken­de Par­al­le­len auf­weist. 

Die span­nungs­rei­chen Sound-Fu­sio­nen (Ale­jan­dro Da Ro­cha) und das im­po­san­te Licht­de­sign (Lu­kas Ma­ri­an) ver­stär­ken die­se noch. Al­le Ele­men­te kre­ieren na­he­zu gleich­be­rech­tigt ein in­sze­na­to­ri­sches Meis­ter­werk zwi­schen Cha­os und gött­li­cher Ord­nung! 

Be­son­ders ver­bin­dend wirkt nebst dem Chor als un­sicht­ba­re In­stanz, auch der Ge­sang ei­ner Tän­ze­rin (Ari­ad­ni To­umpe­ki), die mit kraft­vol­ler, war­mer Stim­me un­bän­di­gen Mut schöpft. So setzt die zeit­ge­nös­si­sche Per­for­mance sym­bo­lisch ein Zei­chen für die De­mo­kra­tie. Dass die hier­ar­chi­schen Macht­struk­tu­ren in der Tra­gö­die aber erst­mals de­kon­stru­iert wer­den müs­sen, be­vor ei­ne ge­rech­te, ver­söhn­li­che Ab­stim­mung an die Stel­le von Blut­ra­che tre­ten kann, wird durch meh­re­re Trep­pen-Ele­men­te de­mons­triert. 

An an­ti­kes Rui­nen­ge­stein er­in­nernd wer­den sie von den Tän­zer:in­nen als dy­na­mi­sche Ob­jek­te durch den gan­zen Büh­nen­raum be­wegt. Mal schei­nen sie Kar­rie­re­lei­ter, mal Stol­per­stei­ne, mal Me­ta­pher für Ge­schlech­ter­kon­flik­te. Ei­ne neue (An-)Ord­nung kann zu ei­ner un­über­wind­ba­ren Hür­de wer­den, ei­ne ge­spal­te­ne Py­ra­mi­den­kon­struk­ti­on als Sinn­bild für Ge­wal­ten­tei­lung. 

Die Treppe wird zum metaphorischen Element. (Bild: pd/Theater St.Gallen)

Frisch aus dem Ei ge­schlüpft

Die Viel­schich­tig­keit und Kom­ple­xi­tät der ver­schie­de­nen Sze­nen wird durch ei­nen über­hän­gen­den Licht­kreis in­ten­si­viert. So wird der gan­ze Büh­nen­raum von der Äs­the­tik des Schre­ckens ein­ge­nom­men: Auf ein­mal stockt der Atem, die Stim­men im Kopf wer­den un­er­träg­lich – und der Zy­klus der Qual wird durch­bro­chen. To­ta­ler Re­set. Ka­thar­sis tritt ein. Ein Mo­ment, der noch lan­ge nach­hallt.

Die Tän­zer:in­nen wer­den für ei­nen kur­zen Mo­ment selbst zu Zu­schau­en­den und be­wun­dern die Ge­burt ei­nes neu­en Sys­tems. Das rach­süch­ti­ge Rot und die Schat­ten der Ver­gan­gen­heit wer­den im Ne­bel­hauch aus rie­seln­dem Was­ser rein­ge­wa­schen, die Kos­tü­me (Breg­je van Ba­len) zu­rück­ge­setzt auf weiss. Die In­di­vi­dua­li­tät bleibt trotz­dem be­stehen. Mit ehr­fürch­ti­ger Acht­sam­keit su­chen die Tän­zer:in­nen in der Grup­pe nach neu­em Ver­trau­en, nach Trans­pa­renz, nach To­le­ranz. Und am En­de er­in­nert uns ein skulp­tu­ra­les Pas de deux an die nack­te Wahr­heit: an die Ehr­furcht und De­mut un­se­rer ei­ge­nen mensch­li­chen Na­tur und die Not­wen­dig­keit der Er­lö­sung. Ein Traum? Ei­ne Uto­pie? Das ist ei­ne Fra­ge der Per­spek­ti­ve. Wirkt ein biss­chen wie im Film. Das ist aber ei­ne Fra­ge der Per­spek­ti­ve, je nach­dem, wel­che Kon­stel­la­ti­on die «Ta­schen­lam­pe» ge­ra­de be­leuch­tet und zum Le­ben er­weckt.

Die Katharsis tritt ein. (Bild: pd/Theater St.Gallen)

Mit höchst ver­dien­tem Ap­plaus wird das Tanz­stück an der Pre­mie­re ge­fei­ert. Die Cho­reo­gra­fie öff­net Au­gen und er­in­nert uns an un­ser fra­gi­les Zu­sam­men­le­ben und die bru­ta­len Kon­se­quen­zen feh­len­der Ge­rech­tig­keit. Die ent­schei­den­de Fra­ge bleibt: Kön­nen wir ver­ge­ben, oh­ne zu ver­ges­sen? Die Per­for­mance tanzt uns ei­nen mög­li­chen Weg frei und über­win­det Hür­den für neue Denk­räu­me. Doch will das die Mensch­heit auch? Die Hoff­nung stirbt zu­letzt. Und das Tanz­stück pro­phe­zeit: «Ein Schiff wird kom­men»!

Ores­teia, Thea­ter St.Gal­len, nächs­te Vor­stel­lung am 22. April, wei­te­re Vor­stel­lun­gen bis Ju­ni.

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