Es brodelt in Gottlieben

«Warum traut sich eigentlich keine Zeitung, den Namen dieses Mannes zu nennen?», fragt ein Mitarbeiter von damals. Die Rede ist von B.* Anfang 2019 setzte der deutsche Kaufmann alle seine Angestellten vor die Tür. Seitdem warten diese auf den ihnen zustehenden Lohn.
Deutscher Energieskandal führt in die Schweiz
B. war Verwaltungsratspräsident der Genie Holding AG im thurgauischen Tägerwilen. Das Energie-Unternehmen war die Muttergesellschaft der Bayerischen Energieversorgungsgesellschaft (BEV), verwickelt in einen der grössten deutschen Pleiteskandale der letzten Jahre. Im Januar 2019 hatte der Energieanbieter im Nachbarland Insolvenz beantragt. Seitdem warten dort hunderttausende Gläubiger auf Rückzahlungen. Der Schuldenberg wuchs auf eine Höhe von mehr als 100 Millionen Euro an.
Das «Geschäftsmodell» lief gemäss der deutschen «Wirtschaftswoche» so: Kunden wurden mit sehr günstigen Preisen gelockt. Dann jedoch erhöhte BEV die Preise massiv, obwohl viele Kunden noch von Preisgarantien geschützt waren. Grund waren wohl finanzielle Engpässe des Unternehmens wegen zu hoher Kündigungsquoten.
Auch in der Schweiz türmen sich die Schulden. Am 18. Februar 2019 meldete die Genie Holding Konkurs an. Seit über zwei Jahren ist eine Konkursverwalterin am Fall dran. Passiert ist wenig.
Das würde Martin Wenk, Abteilungsleiter des Konkursamtes, zwar so nicht stehen lassen. Auf Aussenstehende wirkt es dennoch so. Wenk bezeichnet das Konkursverfahren als «eines wie jedes andere auch». Die Chancen, Geld zu sehen, stünden schlecht. Weil es Kollokationsklagen gebe, verzögere sich das Verfahren enorm.
Weiter will sich Wenk nicht äussern. Auch nicht zu den Anschuldigungen gegenüber B. Nur so viel sagt er: «Wenn alles stimmt, was erzählt wird, hätten wir Strafanzeige stellen müssen.»
Ein Insider bezeugt, dass der Geschäftsmann kurz vor dem grossen Knall Millionen in Sicherheit gebracht hat. Sein Luxusleben jedenfalls musste nicht leiden. Er besitzt zwei Villen in Gottlieben, eine mit Swimmingpool. Eine Dorfbewohnerin beschreibt ihn als jemanden, der stets geprotzt habe mit seinen Ferraris und anderen teuren Autos. Jetzt bekomme man ihn nur noch zu Gesicht, wenn er morgens im Bentley aus der Garage fährt.
Staatsanwaltschaft ermittelt
In Untersuchungshaft musste B. nicht – und macht munter weiter Geschäfte. Seine aktuelle Beratungsfirma nennt sich ungeniert «Genie Beratungs AG». Ihre Adresse liegt nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt, am wohl nobelsten und zugleich zwielichtigsten Geschäftsort, den man sich in der Region vorstellen kann: dem total abgeschirmten Gut Hochstrass.
Bei B. jedenfalls hat sich die Staatsanwaltschaft für Wirtschaftsstraffälle und Organisierte Kriminalität in Frauenfeld eingeschaltet. Oberstaatsanwalt Werner Weber bestätigt indirekt, den Fall B. zu untersuchen: «Zu laufenden Verfahren äussern wir uns nicht», lässt er über seine Sekretärin ausrichten.
Wer öffentliche Informationen zu dem Fall sucht, findet so gut wie nichts. Obwohl skandalös, wirbelte der Konkurs im Schweizer Blätterwald wenig Wind auf. Aber selbst das Wenige von damals ist mittlerweile gelöscht. B.s Macht scheint immer noch weit zu reichen.
Und warum hat noch niemand die Geschichte aufgearbeitet? Vielleicht, weil bei der Genie Holding nur Deutsche arbeiteten? So jedenfalls wurde in der «Thurgauer Zeitung» spekuliert. Der Tägerwiler Gemeindeammann Markus Thalmann sagte, er kenne niemanden aus seiner Gemeinde, der oder die bei der Genie Holding ihr Geld verdiente. Im Grunde sei ihm die Firma unbekannt.
Die Gemeinde Tägerwilen ging vergleichsweise lässig mit dem Pleitekönig um, der ihr ja immer noch Steuern schuldet. Heute auf den Fall angesprochen, gesteht Thalmann, dass man diese Schulden längst abgeschrieben habe. «Das Geld sehen wir nie wieder.»
Einmal beim Falschparken so nachsichtig von den Behörden behandelt werden wie ein Mann, der möglicherweise Millionen hinterzogen hat… – das mögen sich viele Einwohnerinnen und Einwohner denken. Darum brodelt es in Gottlieben schon länger. Weil B. nun aber versucht, einer umtriebigen, aus Tägerwilen stammenden Wirtin das Leben schwer zu machen, ist für viele Ortsansässige die Grenze des Zumutbaren überschritten. Verglichen mit dem finanziellen wiegt für sie der moralische Bankrott schwerer.
Kleines Café, grosser Ärger
B. hatte in seinem kameraüberwachten Riegelhaus aus dem 17. Jahrhundert das Pech, ausgerechnet Carla Frauenfelder als neue Nachbarin zu bekommen. Diese baute das Nachbarhaus mit ihrem Partner um und startete dort kurz vor Beginn der Pandemie ein Begegnungs- und Erlebniscafé namens «Locaholic».
Die aussergewöhnlichen Angebote – Erlebnistouren durch die Region etwa – lockten schnell Gäste an. Auf der Gemeinde nahm man diese Entwicklung mitten im Dorf erfreut zur Kenntnis, soll doch Gottlieben kein Schlafdorf sein. Auf ihrer Homepage lädt die Gemeinde ausdrücklich zum «Spaziergang» ein. Dass für das Angebot ein Umnutzungsgesuch nötig gewesen wäre, verschlief die Bauverwaltung jedoch.
B. und die Nachbarn auf der westlichen Seite nutzten diesen Fauxpas aus und verlangten ein Nutzungsverbot. Selbst den Verkauf über die Gasse, die einzige Möglichkeit, die der Wirtin monatelang blieb, wollten sie nicht dulden. Bis die Umnutzung bewilligt wäre (in der Regel eine Formsache), erlaubte die Gemeinde der Wirtin, weiterhin zu öffnen.
Auch dagegen wehrten sich die Nachbarn. Carla Frauenfelder musste daraufhin das Café ganz schliessen, liess aber andere Angebote, zum Beispiel im Atelier, weiterlaufen. Worauf die Nachbarn erst so richtig loslegten.
«Als im April die ersehnte Bewilligung kam, ist erstmals Hoffnung bei mir aufgekeimt, den Streit doch noch anständig regeln zu können», sagt die angegriffene Jungunternehmerin an ihrer kleinen Theke aus Nussbaumholz. «Wirtin» solle man sie nicht nennen, sie habe ja nur die Erlaubnis für eine Kioskwirtschaft. 20 Plätze darf sie bedienen. Sogar ein Lärmgutachten hat sie anfertigen lassen. Vor dem Haus dienen Pflanzentröge als Barrieren. Sich hier Menschenmassen vorzustellen, ist wirklich schwer.
Rekurs folgte auf Rekurs
Mittlerweile beschäftigt der Fall die kantonalen Behörden. Dies, nachdem der Gottlieber Gemeindepräsident zu vermitteln versuchte – ohne Erfolg. Und zusätzlich wurde Carla Frauenfelder als Privatfrau verklagt und muss vor dem Friedensrichter antraben, wie die «Kreuzlinger Nachrichten» berichteten. Dennoch liess sie nicht locker, sammelte Unterschriften, über 200 kamen zusammen. Sogar einen «Local-Club» hat sie gegründet, rund 150 Menschen machen mit und erhalten Speisen und Getränke am Wochenende im Abo.
Im Internet machen die Gäste ihrem Ärger Luft. 80 Kommentare erhielt der erste Artikel der «Kreuzlinger Nachrichten» zum Thema. Das dürfte Rekord sein für die Lokalzeitung aus Blochers Gratisblatt-Imperium. 95 Prozent davon drückten Support für die Wirtin aus. Einige liessen durchblicken, dass sie wüssten, wer hier mit Kanonen auf Spatzen schiesse. Der Hashtag #BEV (Bayerische Energieversorgungsgesellschaft) fand Verwendung. Und ein Kommentator wies darauf hin, dass der einschlägig bekannte Nachbar «Fachmann im Lichter löschen» sei.
Ein anderer forderte, das man doch dessen Geschichte mal im Detail aufrollen sollte. Ein Gast beschwerte sich, dass er mit Kameras gefilmt werde. Viel Aufruhr für Gottlieben, die kleinste Gemeinde im Thurgau mit laut Imagebroschüre gerade einmal 300 Einwohnerinnen und Einwohnern.
Auf Presseanfragen schalten sich B.s Anwälte ein: «Namens und im Auftrag meiner Klientschaft teile ich Ihnen mit, dass meine Klientschaft keine Stellungnahme abgeben wird. Meine Klientschaft erwartet, dass sie im Artikel nicht namentlich erwähnt wird», beantwortet Anwalt Rolf Bickel eine Mail an B.
Bisher konnte B. alle auf diese Weise einschüchtern. Darum steht sein Name in keiner Zeitung. Doch den Gottlieber Volkszorn, den hat er eventuell unterschätzt.
*anonymisiert