, 14. August 2020
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Zeit für Randale

Migrantenkinder, Logistikkapitalismus und 1000 Jahre Musen-Dasein: Die RUM COLA EP – CUBA LIBRE EP von Freizeittechnologie of Switzerland ist ein anarchistisches Freudenfest.

Freizeittechnologie Of Switzerland: Linus Lutz und Sam Assir. (Bild: Joris Lutz)

Linus Lutz kommt im Rocky-Shirt, Sam Assir in Thaiboxhosen. Wir sitzen in der Gartenbeiz vor dem Hotel Metropol am St.Galler Hauptbahnhof. 30 Grad, die Luft flirrt, das Pflaster heiss wie die Lieferketten von Amazon und überall Menschen mit Masken. Es ist Sommer, aber die Gemüter sind schwer. Da hilft nur Prosecco.

Allzu oft kommt es nicht vor, dass Linus und Sam gleichzeitig in der Stadt sind. Beide sind zwar hier aufgewachsen, aber Sam, auch Teil des Kollektivs «Die Leiden der jungen Bertha*», studiert mittlerweile Kunst in Halle und Linus, einer von den Gaffa-Boys, studiert Kunst in Bern. Zusammen sind sie Freizeittechnologie Of Switzerland und machen technoiden Punk-Trap.

Im Lockdown haben sie sich zusammengetan und ihre Sounds der letzten eineinhalb Jahre verfeinert, ausproduziert und auf eine EP gepackt: Heute ist RUM COLA EP – CUBA LIBRE EP erschienen.

Wohlige Endzeitstimmung

Es sind düstere 25 Minuten, hässig, parolig, widersprüchlich und voller Sehnsucht. Der Soundtrack zum Spätkapitalismus – unbedingt zu empfehlen. Er frisst sich ins Innenohr und verbreitet dort eine wohlige Endzeitstimmung, in der alles erlaubt scheint, weil ohnehin alles verloren ist und wir die Abzweigung zum Glück längst verpasst haben.

Da kommt ordentlich anarchistische Freude auf. Wenn Sam zum Beispiel von den Musen singt, die «1000 Jahre auf irgendwelchen Couches rumgesessen» haben, «ausgezogen». Aber jetzt haben sie Knarren. Und man stellt sich vor, wie sie mit erhobenen Sturmgewehren und Versace-Bandanas durch die Gassen scharmützeln.

Oder wenn Sam in Pyro von den «Zalando-Kids in Supreme-Klamotten» singsangt, die sich «zahnversichert ins Auslandsemester» vertauben, während «das Haus deiner Mutter brennt». Das tönt alles nach sehr wenig Future, ähnlich wie in den 70ern. Und von den Punks damals wissen wir ja auch, dass es keine Sünde mehr geben kann, wenn es keine Zukunft mehr gibt.

So gesehen ist es nur konsequent, wenn es später in B12 heisst: «Und wir schreiben uns Liebesgedichte über den Logistikkapitalismus. Wir sind die Zombies eurer Apokalypse. Mein Desinfektionsmittel riecht nach deinem Schwanz. Ich kann gar nicht so viel Vitamin B12 fressen, wie ich Speed zieh’.»

Der Clip zu PYRO: eine letzte Hommage ans Kulturkonsulat.

Diese Pflastersteinsätze sind auf Synth-Kies und Bassbrocken gebettet. Ein bisschen Autotune ist auch mit dabei und natürlich die Echos der alten Welt. Das ist das Bemerkenswerte an dieser EP: Die Wut drückt zwar immer durch, aber der Sound dazu grenzt manchmal fast schon an Gleichgültigkeit – auf gute Weise.

Ein durch und durch zeitgenössisches Gefühl, abgeklärt, aber auch nah an der Randale, am Aufstand. Oder wie Sam in Schaltjahr singt, wo es um die Kids geht, «die ganz genau wissen, warum sie keinen weissen Männern mehr trau’n»: «Und noch eine Tote mehr und es knallt.»

Marmorteppich und Aquariumzimmer

Auch wenn die Lyrics eher rudimentär sind, wird schnell klar, worum es auf dieser EP geht: gegen Rassismus, Diskriminierung, den Ausverkauf des Kapitals. «Und um die Widersprüchlichkeit in der Welt», fügen Sam und Linus an. «Wir üben Konsumkritik, aber träumen vielleicht insgeheim auch von einem Aquariumzimmer und einer Villa mit Marmorteppich in mexikanisch Kalifornien. Wer weiss das schon…»

Freizeittechnologie of Switzerland: RUM COLA EP – CUBA LIBRE EP, erhältlich auf: bandcamp.com

Der Lockdown kam den beiden nicht ungelegen. «So hatten wir endlich die Zeit, an unserem Sound zu feilen, Unnötiges rauszuschmeissen und dem Ganzen mehr Profil zu verleihen», sagt Linus. «Die Lyrics dazu sind gleichzeitig und fast organisch entstanden.» Produziert haben sie alles von A bis Z selber. Mit etwas Coaching von Michael Gallusser von Stahlberger, der auch Göldin und Bit-Tuner auf die Sprünge geholfen hat – ein unüberhörbarer Einfluss.

Das letzte Mal auf der Bühne gestanden sind Linus und Sam im vergangenen Februar, also vor der Pandemie, als Support von One Mother im Palace. «Dieses Konzert hat uns damals einen richtigen Kick gegeben», sagen sie. «Auch darum haben wir beschlossen, diese EP zu machen. Ein fixes Datum für die Taufe gibt es noch nicht, aber wir freuen uns, sie hoffentlich bald einmal live präsentieren zu können.»

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