Nach Thiel der Tod

Jugendliche und junge Erwachsene, die sich für den Parlamentarismus interessieren, sind eine rare Species. Nur 31 Personen fanden sich zur 38. Session des Jugendparlaments St.Gallen und beider Appenzell am Samstag im Kantonsratssaal zusammen. Warum lieber Street Parade als politische Veranstaltungen?
Von  Harry Rosenbaum
Bilder: Jugendparlament

Die Frage war kein Traktandum an der Session. Trotzdem wurde am Rande über die Streetparade diskutiert, obwohl auch die traktandierten Themen der Jugendsession nicht etwa jugendfern waren. Unter anderem ging es um das Verhüllungsverbot, um Sterbehilfe, die steigenden Gesundheitskosten und horrenden Krankenkassenprämien.

Zudem traten der polarisierende Satiriker Andreas Thiel als Gastredner und Sterbehilfe-Befürworter Ludwig A. Minelli als Überraschungsgast auf. Auch für ein jugendliches Publikum zwei Affichen. Vielleicht aber muss die Politik zuerst aus den hehren Parlamentssälen ausgelagert werden auf die schrillen Lovemobiles der Street Parade.

Riesensause mit dem Gesamtbundesrat

«Kürzlich waren im St.Galler Kantonsratssaal der italienische Botschafter und der Gesamtbundesrat zu Gast. Das war eine Riesensause mit über 800 Gästen», schwärmte Regierungspräsident Fredy Fässler in seiner Eröffnungsrede. «Die Regierenden sind gefeiert worden wie Popstars.»

Vielleicht ist die Örtlichkeit, wo Politik gemacht wird, eine Generationenfrage. Sicher aber ist, dass sich die Beats der Street Parade schneller begreifen lassen als die Mechanismen der Politik im Kantonsratssaal. Fässler kann als Zeuge dafür bürgen. Er verriet in seiner Ansprache nämlich: «Ich war 20 Jahre Kantonsrat, bevor ich in die Regierung gewählt worden bin. Erst als Magistrat habe ich begriffen, was Föderalismus ist. Etwas Kompliziertes, das nach lauter eigenen Lösungen verlangt, für die Gemeinden, die Kantone und den Bund.»

Fässler lobte das politische System der Schweiz als einmalig, weil es jeder Bürgerin und jedem Bürger die Möglichkeit gebe, mitzubestimmen. Dieses System finde zunehmend auch in anderen europäischen Ländern Anhänger, die zumindest ein paar Elemente der direkten Demokratie übernehmen wollten. Die Street Parade, wo auch alle einbezogen werden, ist insofern dem politischen System der Schweiz gar nicht so unähnlich – nur dass die Ausländerinnen und Ausländer an der Technoparade mitfeiern dürfen.

Sorgen bereitet Fässler, dass in Europa und anderswo zunehmend Tendenzen auftreten, welche die Demokratie stark einschränken wollen. Er nannte Ungarn, Polen, die Türkei und Russland. Diese Kräfte würden von einer Demokratisierung der Justiz sprechen. Das sei aber ein Ding der Unmöglichkeit, weil so die Gewaltentrennung aufgehoben würde. «Warum gibt es nicht mehr Widerstand dagegen, warum wehren sich die Bürger nicht gegen solche Tendenzen?» Fässlers Frage, um nochmal mit der Street Parade zu vergleichen, wäre ein Super-Motto für ein Lovemobile.

Satire im Schnellwaschgang

Andreas Thiel ist für viele ein Meister rechtslastiger Platitüden. So abwegig ist diese Einschätzung des Kabarettisten mit der farbigen Irokesenbürste nicht. Im Schnellwaschgang zog der Berner Unterhalter im Kantonsratssaal über Sozialismus, Gewerkschaften, Religionen und die Wirtschaft her. Themen, die auch unter jungen Menschen kontrovers diskutiert werden.

Am meisten Haue bekam der Sozialismus, nach Thiel’scher Auffassung die grösste Betrugsidee der Menschheitsgeschichte. Die Beweisführung hörte sich aber gar nicht satirisch an, dafür umso mehr nach Stammtisch. «Sozialismus verspricht Gratis-Schoggi für alle», stichelte Thiel. Die Schleckmäuler würden mit dieser Parole jedoch aufs Kreuz gelegt. Sie bekämen ein grottenschlechtes Produkt, geliefert von der Kollektivwirtschaft.

Eine mega viel bessere Schoggi produziere der Kapitalismus im Rahmen der freien Marktwirtschaft. «Der Kapitalismus macht alles viel besser, weil er das Korrektiv zum Sozialismus ist», so der Bühnen-Irokese. Bei den jungen Leuten im Kantonsratssaal stiess dieses Fazit auf ein paar Lacher, aber auch auf Stirnrunzeln.

Vom Glücklichsein

Nach dem Sozialismus-Bashing leitete Thiel über zum Thema Religionen und zum Zweck seines halbstündigen Gastreferats: zu beweisen, dass der einzige Lebenssinn das Glücklichsein sei, der Mensch auf diesem Weg aber immer wieder von allen Seiten beschissen würde. Beispielsweise von den Religionen, die den Menschen nicht nur glücklich, sondern auch besser machen wollten und ihm suggerierten, noch mehr Schoggi zu essen. Nach Thiel ist die Süssigkeit der Weg zum Glück.

Gastreferent Andreas Thiel.

Zur Abrundung seiner Weltsicht brachte er noch die Wirtschaft ins Spiel. Sie mache das Produkt Glück noch besser als die Religionen, indem sie raffiniert mit Werbung und Marketing operiere. Das wiederum sei aber bloss ein fauler Trick. Die Menschen merkten irgendwann, dass die Wirtschaft mit ihrer Glücklichmacherei nur Gier und Neid fördere. Überhaupt, so Thiels Erkenntnis, mache die Wirtschaft im Grunde genommen gar nicht glücklich. Sie befriedige lediglich. Der Mensch brauche aber keine Befriedigung von aussen, sondern innere Zufriedenheit fürs Glücklichsein. «Alles was glücklich macht, ist gratis», offenbarte Thiel. «Das, natürlich, ist eine schlechte Nachricht für die Wirtschaft. Also werden wir von der Wirtschaft beworben, dass wir möglichst unzufrieden werden und dadurch Produkte kaufen, von denen wir uns versprechen, dass sie uns glücklich machen.»

Zwischendurch kam Thiel wieder auf die Religionen zu sprechen, weil sie eine Gegenstrategie gegen das Gift der Unzufriedenheit entwickelt hätten. Beispielsweise der Buddhismus, der negative Gefühle in positive Gefühle umwandle und  die materielle Welt nicht so ernst nehme wie wir.

Reich dank teurer Medikamente

Nach diesem geistlichen Potpourri kam Thiel wieder ins Gehege der freien Marktwirtschaft zurück und erklärte, warum die Schweiz reich geworden ist. «Ganz einfach! Sie verkauft teure Medikamente gegen tödliche Krankheiten an reiche Käufer.»

Und wie verkauft man teure Medis an arme Leute? Auch darauf weiss Thiel eine Antwort: «Man richtet den Sozialstaat und die Krankenkassen ein. Eine Erfindung des Sozialismus und der Gewerkschaften notabene. Damit rauben sie den Leuten die Freiheit und zwingen ihnen auf, was sie gar nicht wollen.»

Wenn man Satire als die Kunstform des Spottes versteht, mit welcher Personen, Ereignisse und Zustände in überspitzter, dichterischer Form übergossen werden, macht Thiel eigentlich keine Satire, sondern waschechte Polemik. Seine Pointen zielen auf schenkelklopfende Spassigkeit ab – oder gegen die Oberen. Bierzelttauglich ist das allemal, aber nicht allzu sehr für den St.Galler Kantonsratssaal geeignet. Begeisterungsstürme erntete Thiels «Brandrede» jedenfalls nicht.

Thiel ist im anschliessenden persönlichen Gespräch nicht mehr der Sprücheklopfer. Er kann bei kontrovers diskutierten Themen mit einiger Sachkenntnis in die Tiefe gehen und berserkert nicht gegen andere Meinungen. «Ich bin ein Liberaler», sagt er und orchestriert das Gespräch gar mit dialektisch-argumentativen Einwürfen. Am Schluss des Palavers weiss man nicht mehr, entspringt das, was er als Performer von sich gibt, nur einem Geschäftsmodell, und wie verlaufen unter der bunten Irokesenhaube die Gedanken wirklich? Wahrscheinlich sehr querfront.

Plädoyer für Sterbehilfe

Um Ludwig A. Minelli, den Gründer der Sterbehilfeorganisation Dignitas, ist es in den letzten Jahren ruhig geworden. In seinem Einführungsreferat zum Thema, das die Jungpolitikerinnen und -politiker als Elefantenrunde an ihrer Session gewählt hatten, resümierte der 85-jährige Jurist und Publizist aus rechtlicher Sicht den heutigen Stand der Sterbehilfe.

Seit 1985 bestehe in der Schweiz die Praxis des begleiteten Suizids. Seit 1942 lasse Artikel 115 des Strafgesetzbuches Beihilfe zum Suizid immer dann zu, wenn jemand nicht aus selbstsüchtigen Beweggründen handle.

«Das ist die Grundlage zur Hilfe zum Sterben, der Freitodbegleitung», erklärte er. «Diese Form der Hilfe zum Sterben ist vom Gesetz her zulässig, also legal. Eine solche Handlung wird nur dann bestraft, wenn jemand diese aus selbstsüchtigen Motiven vornimmt.» Der Bundesrat habe in der Botschaft zum Entwurf des Strafgesetzbuches zwei Beispiele dafür angeführt. Danach sei strafbar, wer eine Person zum Suizid verleite und ihr dabei behilflich sei, damit er diese Person entweder schneller beerben könne, oder – falls er diese Person aus verwandtenrechtlichen Gründen finanziell unterstützen müsse –, sie nicht mehr länger auf seinem Portemonnaie liegen würde.

Gut informiert und ausgewogen

Neben der Sterbehilfe diskutierten die jungen Leute im Alter zwischen 15 und 26 Jahren zusammen mit Kantonsparlamentariern auch über die Kohäsionsmilliarde und das Verhüllungsverbot. Dabei erwiesen sie sich als sehr gut informiert und ausgewogen im Meinungsbildungsprozess.

Zu den hohen Gesundheitskosten und Krankenkassenprämien erarbeiteten sie in einem Workshop Forderungen, über die später im Plenum abgestimmt wurde. Unter anderem ging es um eine Standesinitiative für eine Verfassungsänderung bei den Krankenkassenprämien, wonach das System neu mit zwei Säulen, einer öffentlichen und einer privaten, funktionieren soll.

Mit der Systemänderung solle die Eigenverantwortung und Eigenständigkeit der Versicherten gestärkt werden, hiess es in der Begründung des Vorstosses. Er wurde mit 14 Ja gegen 12 Nein bei 5 Enthaltungen angenommen.