Mobilitätsinitiative: im Rückwärtsgang
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Die Absichten des Volksbegehrens: Das 2010 an der Urne beschlossene Reglement für eine nachhaltige Verkehrsentwicklung soll umgestossen werden. Die Folgen wären eine Entplafonierung des motorisierten Individualverkehrs (MIV) und eine deutliche Zunahme des Autoverkehrs, sagten Maria Pappa und Peter Jans an der Medienkonferenz am Donnerstag. Die Verkehrsträger würden gleichgeschaltet. Das wäre eine 180-Grad-Drehung zur Verkehrsberuhigungspolitik der letzten Jahre.
Stadtgerechter Verkehr statt verkehrsgerechte Stadt
Das St.Galler Verkehrsreglement, das die Initianten abschaffen wollen, sieht vor, den Verkehrszuwachs in der Stadt über den Ausbau des öV und des Langsamverkehrs aufzufangen. Bislang hat das einigermassen geklappt, auch wenn die Ergebnisse des Regimes unter dem Verkehrsreglement bescheiden sind. Auf dem gesamten Stadtgebiet konnte die Verkehrsentwicklung zwischen 2010 und 2017 um ein halbes Prozent gesenkt werden. Im gleichen Zeitraum nahm etwa der Verkehr auf der Autobahn A 1 um 10,3 Prozent zu.
Diese stadtentlastende Verlagerung schaffe mehr Lebensqualität und fördere den Lebens- und Wirtschaftsraum, sagt der Stadtrat. Die Mobilitätsbedürfnisse könnten durch diese Art von Verkehrsmanagement optimiert werden. Was die Mobilitätsinitiative eindeutig verhindern würde, wenn sie denn angenommen würde, wäre die Koordination der Verkehrsträger und Verkehrsarten, die optimale Nutzung der vorhandenen Infrastruktur sowie den gezielten Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und des Verkehrsangebots.
St.Gallens Autorekord – trotz allem
Die Mobilitätsinitiative fordert nun eine nachfrageorientierte Verkehrsplanung. In einer Zeit der knappen Raumressourcen, vor allem in den Städten, ist das obsolet. Dem Verkehrsreglement der Stadt St.Gallen liegt die Einsicht zugrunde: stadtgerechter Verkehr statt verkehrsgerechte Stadt.
Trotzdem, das vernünftig angelegte Verkehrsmanagement hat bei weitem noch nicht die Schallmauer durchbrochen, denn St.Gallen hat im Vergleich zu anderen Städten noch immer die höchste Autodichte, und die Pendlerinnen und Pendler aus der Agglomeration bewegen sich noch immer massenhaft per MIV in die Stadt. Die VBSG verzeichnet einen Benützerrückgang. Woran das liegt, weiss niemand.
Andere erproben den Nulltarif
Vielleicht fehlt es an der Radikalität, weil man es bei der Mobilität allen recht machen will. Wie ist das mit der Forderung der 68er: Nulltarif für den öV? Dafür legten sie beispielsweise in Basel in den 1970er-Jahren mit Schienen-Sit-Ins die Trämli lahm.
Maria Pappa, Chefin der Direktion Planung und Bau, und Peter Jans, Chef der Direktion Technische Betriebe, haben dafür allerdings kein Gehör. Weil finanziell angeblich nicht machbar. Zudem ist der Nulltarif in der Schweiz auch längst aus den Traktanden. Anders in der estnischen Hauptstadt Talinn, da gilt er seit 2013. Um das Problem der notorisch verstopften Strassen zu lösen, kann man in der baltischen Stadt ohne Ticket in Tram und Bus einsteigen. Finanziell funktioniert es. Die belgische Stadt Hasselt führte bereits 1997 den Nulltarif für den öV ein und hat ihn bis jetzt nicht wieder abgeschafft.
Man muss nicht einmal in die Ferne schweifen, auch ganz nah gibt es Nachahmenswertes. Beispielsweise im luzernischen Ebikon: Da kommt ein bisher in der Schweiz einzigartiges Mobilitätskonzept zum Einsatz. Mit einem Abonnements-System wird ein Mix von verschiedenen Mobilitätsangeboten direkt in die Wohnungsmiete integriert. So wird trotz der Vielzahl an Wohnungen, die auf dem AMAG-Areal geplant sind, das Verkehrsaufkommen nicht ansteigen.
In einer modernen, aufgeschlossenen Stadt wie St.Gallen ist es bemerkenswert, dass eine Bevölkerungsgruppe auf das Motto der längst verblichenen Autopartei «Freie Fahrt für freie Schweizer» zurückgreift und just in diesem Geist eine Volksinitiative lanciert – Individualitäts-Zwang oder direktdemokratische Neurose?