Mitleidloses Lächeln
«Die pochende Unruhe, eine innerste unerklärliche Angst aber sei bei ihr geblieben.» Man könnte beinah an irgendeiner Stelle in Helen Meiers Werk einsteigen, um auf Bilder der Angst zu stossen wie hier in den Worten einer Julia in der Erzählung Luft aus dem Geschichtenbuch Liebe Stimme. Im Titel des jetzt erschienenen Sammelbands – samt der schwindelerregenden Stahlbrücke, die ihn illustriert – schwingt die Angst ebenfalls mit: Übung im Torkeln entlang des Falls.
Schreiben müssen
Insgesamt herrsche in Helen Meiers Schreiben eine «Dimension des Tragischen und Existenziellen» und ein «unverwechselbares dunkles, abgründiges Timbre», schreibt Herausgeber Charles Linsmayer im Nachwort, das eine eigentliche Helen-Meier-Biographie ist – die erste, die es zu Leben und Werk der Autorin gibt. In virtuosen Engführungen von Werk und Leben schildert Linsmayer die persönlichen Traumatisierungen und familiären Schicksalsschläge, die Helen Meier zum Schreiben gebracht, ja gezwungen haben. «Es wurde eine Sucht. Ich habe schreiben müssen. Ich weiss nicht, was ich gemacht hätte, wenn ich nicht hätte schreiben können», sagt sie in einem der Gespräche, die Autorin und Herausgeber 2016 und 2017 bei Helen Meier zuhause in Trogen geführt haben. Und weiter: «Das Schreiben wuchs aus der unglücklichen Lebenssituation heraus.»
1946 als Seminaristin stürzt Helen Meier auf einem Schulausflug, schlägt mehrere Zähne heraus, der Unfall hinterlässt nicht nur körperlich Narben, er erschüttert ihr Selbstwertgefühl und lässt sie befürchten, «ich würde nie einen Mann kriegen». «Meine verlorene Jugend» nennt sie die Folgen in ihren Tagebüchern, in die Biograph Linsmayer Einblick erhalten hat.
Die weiteren «unglücklichen Lebenssituationen» sind zur Mehrzahl mit der Familie verknüpft. Wer den Roman Lebenleben aus dem Jahr 1989 kennt, weiss einiges davon. 1939 stirbt die Grossmutter unter einigermassen gespenstischen Umständen – die Frau, deren Geschichten die kleine Helen beglückt und literarisch geprägt haben. Ihre ersten Texte wird sie unter Pseudonym mit dem Nachnamen dieser Grossmutter als Irene Grünenfelder (vergeblich) an diverse Verlage schicken. Dann die Schizophrenie: Zwei ihrer Schwestern und der Vater leiden daran, der einen Schwester, Irene, widmet sie den 1994 erschienenen Roman Die Novizin. Und schliesslich die soziale Demontage des Vaters im kleinen Ort Mels und der grausige Sprengunfall, der sein Gesicht zerstört und dem er einige Stunden später erliegt.
Helen Meier: Übung im Torkeln entlang des Falls, herausgegeben und mit einer Helen-Meier-Biographie versehen von Charles Linsmayer, reprinted by Huber im Verlag Orell Füssli, Zürich 2017, Fr. 31.90
Buchvernissagen:
18. Januar 20 Uhr Festsaal Kantonsbibliothek Trogen
19. Januar 19.30 Uhr Kleiner Ratsaal Appenzell
23. Januar 19.30 Uhr Literaturhaus Zürich
24. Januar 19.30 Uhr Raum für Literatur Hauptpost St.Gallen
Helen Meier ist mit ihren Lebensumständen öffentlich immer mit grosser Zurückhaltung umgegangen. Sie sind aber, mehr oder weniger direkt, wie Linsmayer belegt, in ihre Romane eingeflossen, neben den genannten auch in den letzten Roman, Schlafwandel von 2006. Die Geschichten, das literarische «Kerngeschäft» der Autorin, sind hingegen fast nie autobiographisch. Sie machen den Fächer auf ins Existentielle, ins Groteske, ins Radikale. Je später, desto konsequenter spitzen sie sich auf die «letzten Fragen» zu. In der Kurzgeschichte Der halbe Himmel im Band Liebe Stimme von 2000 heisst es: «Vom Tod und von der Liebe mag sie es noch. Von nichts mehr sonst. Von ihm und von ihr. Aber ganz klein. Der Tod ist einfach: Einer sinkt um und ist tot. Die Liebe ist auch einfach: Eine liebt und steht still. Sonst gibt es nichts zu erzählen.»
Tod am Walensee
35 Geschichten versammelt die Auswahl, die Linsmayer in Absprache mit Helen Meier getroffen hat. Sie sind nicht chronologisch gereiht, sondern thematisch raffiniert in Beziehung gebracht. Mit Flügen und Abstürzen geht es los, mit strammen und torkelnden Gangarten, es folgen Selbstmorde, Körper-, Beziehungs- und Sterbensgeschichten, Liebesleiden und Ekstasen, falls man das Meier’sche Universum denn in so enge thematische Korsetts stecken wollte – was man im Grunde nicht kann, wie auch Herausgeber Linsmayer deutlich macht: Helen Meiers Kunst mache in ihren besten Geschichten den Horizont weit, Schmerz, Vergänglichkeit, das Gefährdetsein der menschlichen Existenz sind die grossen Themen. Mit einem «mitleidlosen Lächeln» (so Meier selber in einem Brief an ihren Verleger Egon Ammann) packe sie ihre Figuren an und trenne sich ebenso abrupt wieder von ihnen. «Wunderbaren Reichtum» und «leidenschaftliche Vehemenz» ringe sie dem Dasein ab, sagt Linsmayer.
Die ungebärdige Wucht des Meier’schen Erzählens ist schon vielfach gewürdigt worden. Hier, in dieser «Best of»-Auswahl, erlebt man sie erneut in dichtester Form, Seite für Seite.
Eine der Geschichten aber wird noch einmal sehr persönlich. Sie ist in diesem Buch erstmals publiziert, als einziger bisher unbekannter Meier-Text. Walensee schildert jene Wanderung, auf der am 23. September 1974 ihr Bekannter und Freund E. gestorben ist. Im Original Trauer betitelt, ist die Erzählung ein erschütterndes Dokument des Herausgerissenwerdens aus dem Leben und der Liebe. «Ich falle in ein Loch, wo ich noch nie war. Keine Worte gibt es in der Hölle. Alles scheint mir sinnlos. Es geht mich nichts an, nichts mehr, nichts mehr»: Das ist der Ton dieser erbarmungslos ehrlichen Ich-Erzählung. «Den Tod des Geliebten zu verarbeiten, eine grössere Arbeit wird von mir nie mehr verlangt», heisst es darin. Und auch der Satz, den die Autorin und E. als ihr «Codewort» jeweils ausgetauscht haben beim Abschied, tauge nicht mehr: «Ich halte die Festung!»
Mit ihrem «Walensee»-Text hält Helen Meier die Festung. Für sich und für andere, denen das Schicksal einen Riss durchs Leben schränzt.
Dieser Text erschien im Januarheft von Saiten.