Mit dem Ohr ins Moor
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Der deutsche Astronom Carl Braun hätte am aktuellen Wetter wahrscheinlich keine Freude. Sonne, Sonne, Sonne und nochmals Sonne. Blauer Himmel weit und breit über Gais. Braun interessierte sich nämlich vielmehr für Wolken als die Sonne.
Er war im 19. Jahrhundert der Erfinder des Nephoskops. Ein wissenschaftliches Instrument, mit dem die Richtung und die Geschwindigkeit von vorbeiziehenden Wolken und des Windes in Wolkenhöhe gemessen werden können.
Ohne Wolken, keine Messung. Dennoch käme der umtriebige Erfinder wahrscheinlich ins Staunen, wenn er miterleben könnte, wie sein Nephoskop heute verwendet wird, sogar bei wolkenlosem Himmel.
Wie klingt Blau?
Dem Zürcher Künstler Marcus Maeder dient Brauns Nephoskop als Grundlage für seine aktuelle Klanginstallation in Schopf #8. Davor steht eine gegen den Himmel gerichtete Kamera. Diese filmt den Himmel ab und teilt ihn in zwölf Farbwerte auf. Jedem Farbwert ist ein Klang zugeordnet, der von einem Computer im Schopf erzeugt wird. Die Klänge werden dann über zwölf Lautsprecher ausgegeben und auf einem Bildschirm ebenfalls in zwölf mosaikartigen Quadraten farblich dargestellt.
Obwohl es in den vergangenen Tagen nur vereinzelt Wolken am Himmel hatte, ist das digitale Nephoskop in der Lage, aus einem blauen Himmel zwölf unterschiedliche Farbtöne herauszufiltern. «Wir sehen nur blau, aber die Kamera erkennt darin verschiedene Farbtöne und stellt sie in den quadratischen Ausschnitten dar. Dementsprechend variieren die Töne ganz leicht», sagt der akustische Ökologe, der in anderen Projekten auch schon das Wachsen von Bäumen zum Klingen brachte.
Gegen das kommende Wochenende dürfte es gemäss Wetterbericht über Gais etwas wolkiger werden, was die Nuancen der Klangstruktur von Maeders Wolkenspiegel erheblich beeinflussen dürfte.
Hören in die Tiefe
Eine sinnliche Erfahrung der besonderen Art hat am vergangenen Wochenende auch die Westschweizer Künstlerin Céline Hänni den Teilnehmer:innen ihres Workshops «Happy New Ears» geboten. Die Improvisationskünstlerin schärfte den Hörsinn durch bewusste auditive Wahrnehmung.
«Schliesst für einige Minuten die Augen und achtet auf eure Wahrnehmung der Umgebungsgeräusche», lautete die Anweisung von Céline Hänni. Nach etwa zwei Minuten durften die Augen wieder geöffnet werden. Nun ging es darum, den zuvor gehörten akustischen Raum mit einem Filzstift auf einem Blatt Papier in ein «Gemälde» zu übertragen.
Mit wirren Strichen und wilden Kreisen symbolisierte ich beispielsweise das laute Motorengeräusch eines Traktors, der auf dem Feld unterwegs war und in mein rechtes Ohr drang, während ich mit feinen, dünnen halbrunden Linien das leise Zirpen der Grillen im Gras dargestellt habe, das ich auf dem linken Ohr hörte. Der Assoziationslust sind keine Grenzen gesetzt.
Bei genauerem Hinhören ist es sogar möglich, in den unterschiedlichsten Soundquellen wie Kuhglocken, Grillenzirpen, fernem Motorenlärm, Eisenbahn oder Wind eine Art repetitiven Rhythmus auszumachen und die Geräusche isoliert oder in Bezug zueinander zu hören. Das Konzept nennt sich Deep Listening und stammt ursprünglich von der US-amerikanischen Komponistin Pauline Oliveros.
Blind im Moor
Der Höhepunkt des zweistündigen Workshops mit Céline Hänni war ein rund 15-minütiger Spaziergang durch das Festivalgelände; natürlich ebenfalls mit geschlossenen Augen, jedoch zwecks Orientierung und Sturzgefahr assistiert von einer sehenden Person.
Während wir im Alltag mit geöffneten Augen sofort unsere Blicke auf auftauchende Soundquellen richten – ein bellender Hund, Kuhglocken, ein vorbeifahrendes Auto, Stimmen – existieren Geräusche mit geschlossenen Augen nur im Kopf und sind lediglich als räumlich undefinierbare Quellen erfassbar. Räumliche Distanz und Nähe scheinen sich aufzulösen. Ohne die gewohnte Hilfe der visuellen Erfahrbarkeit der räumlichen Umgebung durch die Augen, scheint die Zeit durch die Reduktion aufs Hören verzerrt und gedehnt zu werden. Die Zeit verläuft subjektiv langsamer.
Bis 12. September, Hochmoor zwischen Gais und Stoss
Nach dem «blinden» Spaziergang und der auditiven Naturerfahrung hat Céline Hänni das KlangMoorSchopfe-Publikum am Abend an ihrem ganz persönlichen Soundscape teilhaben lassen. Im Schützenhaus präsentierte sie ihr neustes Projekt mit Harfe und Stimme. Feinfühlige und harmonische Harfenklänge kollidierten mit der Disharmonie ihrer teils rauen und starken Stimme und den anspruchsvoll vorgetragenen Folksongs und Prosa-Elementen von Emily Dickinson, Emily Brontë, Fernando Pessoa und Henry David Thoreau.
Das Audiokunst-Festival KlangMoorSchopfe läuft noch bis kommenden Sonntagabend. Neben den Installationen in den Schopfen gibt es zahlreiche Workshops, Podiumsdiskussionen oder eine ornithologische Audio-Lecture sowie an den Abenden Live-Performances im Schützenhaus.