, 10. Oktober 2023
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Mit Bürgi durch Raum und Zeit

Das Kulturmuseum St.Gallen widmet dem beinahe vergessenen Toggenburger Jost Bürgi, einem Feinmechaniker der Renaissance von Weltrang, eine Sonderausstellung. Sie lädt ein zum Experimentieren, ist liebevoll aufgemacht, aber auch ziemlich kopflastig.

EBürgis erleuchtete Himmelsgloben im Kulturmuseum. (Bild: pd)

Schon am Ursprung der Ausstellung über den Toggenburger Uhren- und Instrumentenbauer Jost Bürgi stand eine Frage von Zeit und Raum. Peter Fux, heute Leiter des Kulturmuseums St.Gallen und damals noch Mitarbeiter im Rietberg-Museum, verpasste in Zürich seinen Zug und stolperte im Bahnhofshop zufällig über Fritz Staudachers Bürgi-Biografie. Als Fux sich dann für die Stelle in St.Gallen bewarb, erinnerte er sich an die Lektüre: Der ideale Stoff für eine Ausstellung in der Kantonshauptstadt.

Die Geschichte des Mannes aus Lichtensteig, der nie eine höhere Bildung genoss, kein Latein beherrschte und 1604 dennoch von Kaiser Rudolf II. höchstpersönlich als Hofuhrmacher nach Prag einbestellt wurde, entfachte in Peter Fux – von Haus aus Archäologe – sofort eine Faszination für die ausgeklügelte Mess- und Apparatetechnik der Renaissance und vor allem auch für die naturphilosophischen Fragen, die mit jenem technologischen Fortschritt verbunden waren: Denn die grossen Astronomen jener Ära wie Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler oder Tycho Brahe und ihre Vermessung des Kosmos liessen das über Jahrhunderte vorherrschende ptolemäische Weltbild, wonach die Erde als Zentrum des Universums galt, wanken und schliesslich einstürzen.

Sigmund Freud sprach später von den drei grossen «narzisstischen Kränkungen» der Menschheit. An deren Anfang stand demnach die «kosmologische Kränkung»: Der Menschheit wurde in der Frühen Neuzeit bewusst, dass die Erde nicht das Zentrum ist. Es folgten die durch Darwin ausgelöste «biologische» und die von Freud selber entfachte «psychische» Kränkung: Die Menschen sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern aus den Tieren hervorgegangen, und sie haben keine Macht über ihr eigenes Unterbewusstsein.

Handwerker aus dem Toggenburg

Unabhängig davon, ob man Freuds Theorie folgen mag oder nicht, ist klar, dass in der Renaissance entscheidende wissenschaftliche Entdeckungen gemacht wurden, die das Weltbild für immer prägen sollten. Und mittendrin der Toggenburger Jost Bürgi, der in seine Prager Zeit von 1604 bis 1630 eng mit Hofmathematiker Johannes Kepler zusammenarbeitete und ebenso wie dieser direkten Zugang zu den kaiserlichen Gemächern genoss.

Jost Bürgi im Portrait, umgeben von den vielfältigen Anwendungen seines Triangularinstruments. 1619 gezeichnet von Ägidius Sadeler, Umrahmung gestochen von Anton Eisenhoit, der auch diverse Instrumente Bürgis künstlerisch verziert hat. (Bild: Unibibliothek Kassel)

Aber warum geriet Bürgi, der auch als hervorragender Mathematiker und Co-Entdecker der Logarithmen gilt, in Vergessenheit? Es hat vermutlich mit mangelndem Sinn für Selbstvermarktung zu tun: Bürgi hat kaum Schriften hinterlassen und so gut wie nie publiziert. Sein Engagement galt der Berechnung und dem Bau von Uhren und Apparaten, die für alle nutzbar sein sollten (sofern sie es sich leisten konnten), kleine, höchst präzise, gut transportierbare und leicht verständliche Messinstrumente.

Sein Antrieb war nichts weniger als eine Umkehrung der bisherigen astronomisch-astrologischen Praxis: Er wollte nicht mittels Beobachtung der Himmelskörper die Zeit bemessen, sondern anhand exakter Uhren die Bewegungen der Planeten und Sterne genauer bestimmen und voraussagen. In seinen neuartigen Uhrwerken und anderen Apparaturen – am berühmtesten sind sicher die automatischen Himmelsgloben – zeigt sich, dass nicht ein Weltbild das nächste ablöste, sondern dass diese nach wie vor miteinander konkurrenzierten. Auch Jost Bürgi hat sich hier – so weit bekannt – nicht festgelegt und unterschiedliche Modelle entwickelt, die verschiedene Vorstellungen abbilden.

Bürgi bleibt im Dunkeln

Die aktuelle Bürgi-Ausstellung im Kulturmuseum St.Gallen ist düster gehalten, die vielen hübschen und auch kunsthandwerklich äusserst fein gearbeiteten Originalexponate – darunter Leihgaben aus Zürich und Kassel – funkeln im abgedunkelten Raum wie Sterne im All. Sie lassen eintauchen in die Welt der Renaissance-Apparatetechnik. Unglaublich zum Beispiel, wie es Bürgi gelang, die Drehbewegungen seiner Miniatur-Maschinen automatisch zu verlangsamen und wieder zu beschleunigen, ganz so, wie sich die jährliche Erddrehung um die Sonne im Nordsommer leicht verlangsamt. Anhand nachgebauter Modelle zum Selberbedienen werden die komplizierten mechanischen Vorgänge in den Bürgi-Apparaten vereinfacht veranschaulicht. Auch mit Sextanten und anderen Messinstrumenten können Besucher:innen selber experimentieren.

Eines der hübschesten Exponate der Bürgi-Ausstellung: «Himmelsglobus Zürich» von 1594, konstruiert von Jost Bürgi, verziert von Anton Eisenhoit, eine Leihgabe des Landesmuseums in Zürich. Alle Bewegungen werden von einem Werk im Inneren des Globus erzeugt, und zwar so, dass bei einer gleichmässigen Bewegung des Sternhimmels die Sonne und die Zeiger des Zifferblatts leicht ungleichmässig geführt werden. Das entspricht der ungleichmässigen Bewegung der Erde auf ihrer Bahn um die Sonne und den Abweichungen, die sich durch die Schrägstellung der Erdachse mit dem Äquator gegenüber der Ekliptik (Bahn der Sonne gegenüber anderen Sternen von der Erde aus gesehen) ergeben. (Bild: Schweizerisches Nationalmuseum)

Die Geschichte Jost Bürgis, über dessen erste 27 Lebens- und Wanderjahre praktisch nichts bekannt ist, ausser dass er aus einer begüterten Lichtensteiger Familie stammte, gibt ein hervorragendes Narrativ ab und bedient natürlich auch regionalpatriotische Gefühle: Bürgi, der vergessene Toggenburger; Bürgi, der Unterschätzte; Bürgi, der grosse Wissenschaftler am Kaiserhof, der auf Augenhöhe mit Kepler wirkte – als Freund und nicht, wie lange angenommen, als dessen Assistent.

Ein Toggenburger mitten im wissenschaftlichen Epizentrum frühneuzeitlicher Astronomie und damit auch der europäischen Machtpolitik: Rudolf II. versprach sich durch die genauere Bestimmung planetarischer Laufbahnen exaktere astrologische Vorhersagen und damit fundiertere politische Entscheidungsgrundlagen. Naturwissenschaften und Aberglaube eng verzahnt, gewachsen aus dem humanistischen Gedanken, dem Göttlichen durch die empirische Beobachtung und Beschreibung der Schöpfung etwas näher zu kommen.

Apropos Aberglaube: Die Bürgi-Ausstellung ist auch angetreten, um mit gewissen Vorurteilen aufzuräumen. Die Idee, dass man bis weit ins Mittelalter glaubte, die Erde sei eine flache Scheibe, ist im Wesentlichen eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Seit der Antike weiss man um die Kugel- resp. Ellipsoidförmigkeit der Himmelskörper.

Eine gewisse Kopflastigkeit ist der Bürgi-Ausstellung nicht abzusprechen. Da werden viele philosophische Fragen aufgeworfen und behilft man sich auch philosophischer Zitate, etwa am Anfang und Ende der Ausstellung von Kant respektive Sloterdijk («Die Kugel ist tot», in Anlehnung an Nietzsches Ausspruch «Gott ist tot»). Vielleicht auch deshalb, weil man mangels Schriftquellen schlicht zu wenig weiss, welche naturphilosophischen Ansichten Bürgi selber vertrat.

Viel Text, viel Ehr‘

Erschienen ist parallel zur Ausstellung auch eine umfangreiche Begleitpublikation. Sie umfasst zum ersten Mal ein komplettes Werkverzeichnis von Bürgis Hinterlassenschaft und setzt sein Werk in verschiedenen Fachartikeln sehr ausführlich in den kultur-, ideen-, technik- und regionalgeschichtlichen Kontext. Das Buch ist nicht in allen Teilen leichte Lesekost und widerspiegelt damit auch etwas die Ausstellung. Eine faszinierende Welt, auf die man sich aber einlassen muss und die ohne zusätzliches Vermittlungsangebot schwerlich in ihrer Ganzheit fassbar wird.

Jost Bürgi (1552–1632) – Schlüssel zum Kosmos: bis 3. März 2024, Kulturmuseum St.Gallen

Infos und Rahmenprogramm: kulturmuseumsg.ch

Dieser Sperrigkeit in gewissen Teilen begegnet das Museum in der Ausstellung mit filmischen und akustischen Elementen sowie einem immensen Rahmenprogramm vom klassischen Rundgang mit dem Museumschef persönlich über szenische Führungen, Vorträge, Exkursionen in die Sternwarte oder nach Lichtensteig, einem Podium mit dem ehemaligen NASA-Wissenschaftsdirektor Thomas Zurbuchen bis zu Logarithmen- oder Small-to-Big-Data-Workshops. Da hat das Kulturmuseum effektiv sämtliche Register gezogen.

Droht da ein Bürgi-Overkill? Möglicherweise. Aber eine gewisse Berechtigung hat die eingehende Beschäftigung mit dieser spannenden historischen Figur dennoch. Wer, wenn nicht das Kulturmuseum St.Gallen, könnte hier einen Beitrag zum Nichtvergessen dieser doch ziemlich einflussreichen Toggenburger Persönlichkeit leisten? Auch wenn das damit gesetzte Denkmal vielleicht etwas übergross daherkommt.

Am Schluss muss man bei aller Anerkennung für die Gewissenhaftigkeit in der historischen Aufarbeitung sagen, dass uns Jost Bürgi als Mensch letztlich ebenso unfassbar bleibt wie die letzten Fragen nach Sinn und Ursprung von Zeit und Raum.

 

1 Kommentar zu Mit Bürgi durch Raum und Zeit

  • Röbi Mähr sagt:

    Es ist spannend zu lesen, wie man sich aus provinzieller Sicht mit einer „doch ziemlich einflussreichen Toggenburger Persönlichkeit“ schwertut. Oder ist es vielleicht unser Zeitgeist, dass (geniale) Handwerker immer in der zweiten Reihe zu stehen haben?

    Die Ausstellung ist ein Muss und für die technisch nicht so bewanderten Besucher helfen die ausgezeichneten Kurzführungen und das hochkarätige Rahmenprogramm.

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