Mission mischen
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Links in der Reihe wird im breitesten Rheintaler Dialekt diskutiert. Rechts Ukrainisch, weiter vorn eine afrikanische Sprache – das Publikum in der rammelvollen St.Galler Grabenhalle ist an diesem Januarabend so international wie die Theatergruppe vorne auf der Bühne: Schweiz, Afghanistan, Somalia, Syrien, Ukraine, Deutschland, Portugal und Türkei heissen die Herkunftsnationen der 14 Spielerinnen und Spieler, die im Stück zusammen eine grosse Familie bilden. Ihr Name sagt schon, dass es an dem Abend drunter und drüber gehen wird: Familie Chaos.
Papa hat seinen Job verloren, Bruder Maxi wird als Klimaterrorist von der Polizei gesucht, Schwester Lucie lässt ihre Hochzeit sausen, Bruder Mario will sich scheiden lassen, Mama hat alles im Griff und sorgt dafür, dass alle beim Abwaschen helfen – aber dann eskaliert die Situation, und nur dank der Hilfe des jüngsten Familienmitglieds namens Chaos Chaos, das von Ausserirdischen abstammt, schrammt Familie Chaos an der Katastrophe vorbei und feiert zum Happy End eine rauschende Party.
Im «Chaosmos» sind alle gleich viel wert
Das Stück Familie Chaos, von der Erfolgskomödie Hase Hase von Coline Serreau inspiriert, ist im Montagstraining der Kulturkosmonauten innerhalb von gerade einmal zwei Wochen entstanden. Shehadi Abdallah, Mariama Abdullahi, Leon Akermann, Arlette Christinger, Vasylysa Frolova, Nasrullah Gurbani, Anastasiia Huz, Mahdi Mirzai, Esad Özirmali, Lee Pestalozzi, Lea-Danielle Irene Pfaff, Anton Tkachuk, Anouk Wellnitz und Yunus Yilmaz haben es erarbeitet unter Leitung von Anna von Schrottenberg und Tobias Stumpp. An der Premiere und einzigen Aufführung in der Grabenhalle Anfang Januar ist die Nervosität zu spüren – aber vor allem die Leidenschaft, auf der Bühne zu stehen und über alle Sprachhindernisse hinweg seine Rolle zu spielen.
Festival «Echt jetzt?!?» der GBS-Berufsvorbereitungsklassen: 15. und 16. Februar, St.Gallen Festival «Von hier und anderswo» der GBS-Integrationskurse: 7. und 8. März, St.Gallen
Das Montagstraining in der Talhof-Turnhalle ist seit inzwischen fünf Jahren das Herzstück der kulturkosmonautischen Arbeit: geleitet von Theaterprofis und offen für alle, unabhängig von Herkunft, Alter, Sprache und Bühnenerfahrung. Die Mittel sind Sprache, Spiel, Tanz und Musik. Das Ziel, sagt Pamela Dürr, die künstlerische Leiterin der Kulturkosmonauten und Miterfinderin des Montagstrainings, sei aber weiter gesteckt: mit den Teilnehmenden die «future skills» zu entwickeln, die sie in der Gesellschaft brauchen. «Kunst und Kultur sind tolle Schlüssel für die Persönlichkeitsentwicklung. Ich bin so stolz auf jeden einzelnen und jede einzelne, wie sie ein solches Stück solidarisch entwickelt und auf die Bühne gebracht haben.»
Aus dem Montagstraining haben sich immer wieder Produktionen herausgebildet, angestossen von den Teilnehmenden selber, die für Pamela Dürr sowieso «die besten Projektentwickler» sind – so etwa die Zukunftsverfassung, ein Projekt, das die Kosmonaut:innen 2023 im St.Galler Kantonsratssaal vor versammelter Politprominenz zeigten, die Performance 100 Shades of White im Textilmuseum, die Mitwirkung an der Kulturlandsgemeinde 2021 in Teufen oder Videoarbeiten, die während der Corona-Pandemie entstanden.
Solidarität statt Ausgrenzung
Zweites Standbein der Kulturkosmonauten sind Workshops mit Jugendlichen, ebenfalls jeweils auf zwei Wochen angelegt. Wichtigster Partner ist das Gewerbliche Berufsschulzentrum GBS mit seinen Berufsvorbereitungsjahr-Klassen und Integrationskursen. Ausserdem macht das Team der Kosmonauten Workshops mit straffälligen Jugendlichen, Lernenden des Kantons St.Gallen oder mit der Pädagogischen Hochschule. Pro Jahr erreiche man in den diversen Workshops rund 250 Jugendliche, hauptsächlich, aber nicht nur mit Migrationsherkunft, sagt Pamela Dürr. Die Ergebnisse der aktuell laufenden Workshops aller vier Berufsvorbereitungs-Klassen der GBS sind Mitte Februar an einem zweitägigen Festival unter dem Titel «Echt jetzt?!?» zu sehen, jene der Integrationskurse unter dem Motto «Von hier und anderswo» im März.
Ein dritter Pfeiler ist seit neustem die Kosmonautische Bibliothek, kuratiert von Kulturvermittlerin Barbara Tacchini, die sich auf die Suche macht nach Stoffen und transkulturellen Erzählformen.
All die professionelle Arbeit hat ihren Preis: In den letzten Jahren haben, neben Kanton und Stadt St. Gallen, die private Drosos-Stiftung sowie die Eidgenössische Migrationskommission über deren Programm «Neues Wir» die Kulturkosmonauten wesentlich mitfinanziert. Nach diesen Anschubfinanzierungen müssten jetzt neue Geldquellen gefunden werden, sagt Pamela Dürr – eine schwierige Aufgabe, weil Stiftungen eher auf die Förderung von Einzelprojekten als auf Basisarbeit ausgerichtet seien. Immerhin leistet das Bundesamt für Kultur BAK eine dreijährige Unterstützung für «Projekte mit Modellcharakter».
Ihre Basisarbeit bringt Pamela Dürr auf den eigens kreierten Begriff: «Mission mischen». Geflüchtete treffen mit Schweizer:innen zusammen, Jugendliche aus diversen Kulturen begegnen sich, «Bubbles» platzen auf, Alt und Jung kommen in Kontakt: All das hat unsere Zeit dringend nötig, ist Pamela Dürr überzeugt. Weitherum herrsche heute ein System der Konkurrenz, des Trennens, der gegenseitigen Ausschlüsse. Oft «klemme» der Austausch nicht an den Neuankömmlingen, sondern an der fehlenden Neugier und Offenheit der Einheimischen selber. «Es wäre höchste Zeit für ein solidarisches Miteinander – Kunst kann da neue Räume, Erfahrungen und Spielformen anbieten.»
Inklusiv mit Shakespeare
Theater St. Gallen: Sturm, weitere Vorstellungen am 28. und 30. Januar, 2. und 7. Februar, Lokremise St. Gallen
Mehr zum Stück gibts hier.
Kooperation statt Separation heisst die Devise auch beim Theater St.Gallen. Für den jüngsten Schauspielabend nach Shakespeares letztem Stück Der Sturm hat sich das Ensemble mit dem Komiktheater zusammengetan, der seit 2017 bestehenden professionellen Theatergruppe von Menschen mit einer Beeinträchtigung. Fünf Spieler:innen des Komiktheaters (Joy Käser, Florian Nef, Silas Obertüfer, Cornelia Rach und Joanna Rohner) stehen mit Tabea Buser, Christian Hettkamp und Pascale Pfeuti vom Schauspielensemble auf der Bühne – beziehungsweise wirbeln und sausen und sounden durch die Lokremise, dass sich Shakespeare wundern würde.
Live gesprochene Texte wechseln ab mit Dialogen ab Band, Liveszenen erweitern sich um Videos aus der Probenarbeit, Rollen und Figuren purzeln durcheinander, so dass man als Zuschauer bald einmal nicht mehr Beeinträchtigungen, sondern nur noch Begabungen sieht. Und sich mitreissen lässt vom Sturm der Einfälle, vom Strudel der Aktualisierungen und Referenzen. Durch alle Geschichten hindurch erzählt der St.Galler Sturm vor allem eine Geschichte: jene von der Unwiderstehlichkeit des gemeinsamen Tuns und der Verwandlungskraft der Fantasie. Ein Lob und eine Feier des «Wir» – so wie in der kulturkosmonautischen Chaos-Familie.