Johann Ulrich Schläpfer wuchs in ärmlichen Verhältnissen in Speicher auf, war ausgebildeter Metzger, ständig auf Arbeitssuche, hatte Schulden, diente 15 Jahre als Söldner in Algier und Neapel und liess schliesslich 1862 als geständiger Raubmörder sein Leben unter dem Ausserrhoder Richtschwert. Mit Schläpfer fand das staatliche Töten in Appenzell Ausserrhoden ein Ende. Die «Appenzeller Zeitung», die damals als eine Art Hauszeitung der radikalliberalen Bewegung der Schweiz galt, nahm den öffentlichen Gerichtsprozess gegen Schläpfer und dessen Hinrichtung auf dem Richtplatz in Trogen zum Anlass, um gegen die Todesstrafe anzuschreiben.
Den St.Galler Buchgestalter, Typograf und Designer Gaston Isoz – seit 1995 in Berlin lebend – interessieren aber nicht in erster Linie die Hinrichtung oder die historische Werdung des Strafrechts im jungen schweizerischen Bundesstaat an sich, als vielmehr die soziale Frage und die Armut des Hingerichteten, die ihn wie so viele andere Schweizer:innen Mitte des 19. Jahrhunderts dazu bewog, das Land zu verlassen.
1843 zog Schläpfer 22-jährig ein erstes Mal los mit dem Ziel Algerien, das bereits französisch besetzt war. Doch gelang es ihm nicht, dort Fuss zu fassen, und er kehrte nach wenigen Monaten zurück. Kurz darauf verpflichtete er sich als Söldner in Neapel. 15 Jahre diente er dem Königreich beider Sizilien, bis er 1858 endgültig nach Speicher zurückkam, eine Familie gründete, sich weiter verschuldete und schliesslich zum Raubmörder wurde.
Gaston Isoz ging für sein fotografisches Essay Leaving Speicher auf geografische Spurensuche, hat zunächst aber die alten Ausgaben der «Appenzeller Zeitung», die ausführlich über den Fall Schläpfer berichtete sowie den historischen Roman Der Weg zum Richtplatz aus dem Jahr 1994 studiert und mit Autor Walter Züst gesprochen, der ihm Einblick in seine Rechercheunterlagen gewährte. Danach bereiste Isoz die Schauplätze von Schläpfers biografischen Stationen im Appenzeller Mittelland, fuhr über Genf nach Marseille, setzte mit der Fähre nach Algier über und überquerte auf der zweiten Reise die Alpen Richtung Neapel auf den Spuren Schläpfers, der diese Reise zu Fuss und im Pferdewagen unternommen hatte.
Leaving Speicher lebt nicht nur vom fotografischen Festhalten eines historischen Lebenswegs im Heute, sondern auch von den erläuternden Begleittexten. «Die Fotografie – als Beweis unwiderlegbar, aber unsicher, was den Sinn angeht – erhält Sinn erst durch Worte», zitiert Isoz den britischen Kunsttheoretiker John Berger. Leaving Speicher ist online frei zugänglich, eine Ausstellung oder eine gedruckte Publikation ist aktuell nicht vorgesehen.