Mehr als die Summe aller Teile
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Der Titel der Ausstellung – «Das bohèmistische Subjektiv» – ist selbst schon ein Kunstwerk und bedarf einer Erklärung: «Subjektiv» ist eine Wortneuschöpfung aus Subjekt und Kollektiv und zielt auf das Zusammenspiel von einem Einzelnen und der Gruppe ab. Aristoteles sagt, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, und vielleicht ist das ein Grund, warum Kunstschaffende sich zu Kollektiven zusammenschliessen – zur Bohème.
In diesem Jahr würde es auf der Hand liegen, eine Ausstellung über den Konstanzer Dichter Rudolf Adrian Dietrich und sein Künstlerkollektiv «Komet-Kreis» zu organisieren, denn dieses wird 2018 hundert Jahre alt. So ist es ja oft: Künstlerinnen und Künstler leben von der Hand in den Mund, verkaufen kein einziges Bild und kaum sind sie unter der Erde, gibt es grosse Ausstellungen mit «100 Jahr»-Bannern, Schwarzweiss-Fotografien der Künstler, wie sie in ihren Ateliers sitzen oder in verrauchten Kneipen mit ihren Freunden die Nächte durchzechen – etwa so:
«Wenn man in Konstanz mit dem Maler A auf die Party einer WG, in der man niemanden kennt, geht, dann ist da zunächst auch der Maler B, den man ganz gut kennt und der zufällig im selben Haus wohnt (Der Maler C verkehrt in anderen Kreisen). Später kommt auch D, der kein Maler ist und den man auch ganz gut kennt und immer mal wieder trifft. E, der einen berühmten Vater in Berlin hat und dem man gelegentlich eher beruflich über den Weg läuft, ist schon mit F da, den man nur aus der Ferne und von einigen Fast-Begegnungen kennt….»
Das war ein Auszug aus dem Werk des Schriftstellers Sebastian Winterberg, der nach der Landschaft, den Leuten und der Kultur der Vierländerregion fragt und die derzeitige Kunstszene am See beleuchtet. Und die ist auch heute bunt und lebendig: In Konstanz hat sich beispielsweise die «Kunstnacht in der Niederburg» etabliert, hier öffnen Kunstschaffende ihre Ateliers, präsentieren ihre Arbeiten und sind zum persönlichen Gespräch anwesend.
Verflochtene Wege
Diese Begegnungen inspirierten Thomas Radke, den es selbst vor 13 Jahren an den See geschwemmt hat. Er ist beruflich in die Kunst- und Kulturszene integriert und bringt nun Künstlerinnen und Künstler zusammen, die in den Jahren 2013 bis 2018 in Konstanz gelebt und gearbeitet haben.
Dabei spielt er mit dem Begriff des Kollektivs, das in dieser Form bisher gar nicht bestand. Dennoch sind alle Beteiligten in irgendeiner Weise miteinander in Berührung gekommen und ihre Wege verflochten. Radke schafft so mit dem «Subjektiv» eine Metapher, die Kai Matussik, einer der beteiligten Künstler, in einer Art «Blauem Reiter» umsetzt: ein Trojanisches Pferd, in dessen Hüllen sich mehrere Menschen verstecken, mit Farbeimern und Pinsel ausgestattet. Die Positionierung dieser Gegenstände ist rein zufällig und ohne weitere Bedeutung, muss also nicht interpretiert werden…
Kurator Radke zeigt auch die Makroebene der sieben Kunstschaffenden, die Umwelt, in der sie sich bewegen. Man findet aktuelle Presseartikel, die Form, Gestalt und Förderung der Kultur in Konstanz diskutieren und kritisieren. Unter anderem auch über den Ort, an dem sich die Ausstellung befinden: den ehemaligen Bildungsturm, der seit Anfang diesen Jahres als Turm zur Katz zu einem Zentrum für Zeitgenössische Kunst und Gestaltung umfunktioniert wurde.
Leben, Umgebung und Alltag der Künstler
In den oberen zwei Stockwerken zeigt Radke, wie sich die Begegnungen der «Subjektiv»-Künstler in Konstanz ab dem Jahr 2013 entwickelt haben, und ordnet in einem Zeitstrahl, der sich über die Stockwerk zieht, die gemeinsamen Ausstellungen und Veranstaltungen an – wer wann wo mit wem war. Auch andere Kunstschaffende sind Vorbilder und Inspirationsquelle. Um zu zeigen, wo die einzelnen Wurzeln liegen, hat jede und jeder eine exemplarische Arbeit aus der persönlichen Kunstsammlung mitgebracht. Dort finden sich neben Werken von regionalen Kunstfreunden auch eine Arbeit des Berliners Jonas Burgert oder ein Albumcover von Outcast.
Das bohèmistische Subjektiv: bis 11. November, Turm zur Katz Konstanz
Kunstnacht in der Niederburg: 9. November 18 – 23 Uhr, diverse Orte in Konstanz
stadt.konstanz.de
Der Kurator inszeniert also mit dieser Ausstellung nicht nur die Werke der Kunstschaffenden, sondern beleuchtet auch ihr Leben, ihren Werdegang und Alltag. Inklusive Ablehnung, Misserfolge und Absagen: Ein «Schrein des Scheiterns» mit Absagen und Beschwerdemails erzählt davon.
Was wäre ein Kollektiv ohne einen Ort, der alle vereint? In diesem Fall sind das der Horst Klub in Kreuzlingen und die Galerie Lachenmann, die ihre Räumlichkeiten im Konstanzer Industriegebiet hat und mit ihren Vernissagen und Festen als Szenetreffpunkt gilt. Stellvertretend dafür steht ein Stuhl mit Leergut von der letzten Schwarzmarkt-Vernissage da, an er die meisten Künstler vertreten waren.
Wer ist das Subjektiv?
Bernd Sommer ist der einzige gebürtige Konstanzer im Subjektiv. Er ist Stukkateurmeister im Familienbetrieb und hat in seiner Wohnung ein Atelierzimmer, in das er sich nach Feierabend zurückzieht, um zu malen. Dort entstehen rote Zebras, Szenarien wie bei Matrix oder den Tributen von Panem und Hommagen an Musiker wie Nancy Sinatra. Man fragt sich, wo die Realität beginnt und wo sie endet.
Dann Andreas Wacker: Seine Arbeit als Psychotherapeut spiegelt sich in seinem künstlerischen Schaffen wieder. Die Elemente sind angeordnet wie in einem absurden Traum oder Albtraum – ein Abbild des Unbewussten, das es zu deuten gilt. Aktuelle Bezüge zum Zeitgeschehen und zu gesellschaftlichen Einflüssen sind zu erkennen. Der Begriff «Störungsbilder» lässt sich bei ihm wörtlich nehmen. Im Unterbewussten der Bilder schlummern Zutaten, die Wacker in seine Farben mischt: Antidepressiva, Alkohol, Blut, Schweiss und Babyöl.
Auch die Lyrik als Kunstform ist vertreten, mit Sebastian Heinrich. Er hat die Boxtrainer-Lizenz und ist Personalberater. Künstlerisch ist er als Rapper und Lyriker tätig. 2017 hat er den Gedichtband Ich schreibe – du bleibst. Erwartungen an ein Herz veröffentlicht, mit dem er den Red Dot Award gewann. Sein Schreibtisch lädt in die Besucher ein, daran Platz zu nehmen und auszuprobieren, wie es sich dort anfühlt.
Thelan Nguyen ist in Vietnam geboren, in Frankreich aufgewachsen, hat in San Francisco, Paris und Hanoi gelebt und nun in Konstanz. Er zeigt den bunten Lifestyle der Hippies, die Sonne Kaliforniens und die Liebe, die er mit San Francisco verbindet. Er habe noch nie so schlimmen Liebeskummer gehabt wie bei seinem Umzug weg von der US-Westküste, sagt der Künstler. Am Bodensee sind ruhigere Werke entstanden. Die Kunst ist für ihn ein Ausbrechen aus der Struktur des Alltags und der Arbeit, ein Weg zu sich und zur Freiheit. Sein Schaffen spielt mit Formen, Farben und Materialien. Dabei entsteht ein Automatismus, die Motive kommen wie von selbst.
Stefanie Scheurell ist die einzige Künstlerin, hat dafür aber eine Vita, die für drei reichen würde. Im «Subjektiv» zeigt sie Arbeiten aus den Werkzyklen Kadmium. Es sind Bilder und Skulpturen in erdigen Rottönen, die von der Überwindung des Todpunktes erzählen. Kombiniert hat Scheurell diese Werke mit ihren kleinen Schreinen, die sie aus Kästchen und Naturelementen zusammenstellt. Es geht um das Verborgene, Geheimnisvolle, um Natur und Mystik.
Die Fotografe wird von Ulrich Riebe vertreten. Er ist studierter Elektrotechniker und Philosoph und fotografiert mit einer Spiegelreflexkamera. Aus bis zu 16 Einzelaufnahmen, die ein Kugelpanorama aufzeigen, setzt er seine Ansichten zusammen. So verschwimmen die Ebenen, Perspektiven sind verzerrt und starke Farbkontraste entstehen. Man muss die Bilder eine Weile betrachten, um sich zu orientieren. Es sind Panoramaaufnahmen, Fahren auf der Fähre sowie eine Aufnahme der Uni – mit dem philosophischen Geist, der über den Räumlichkeiten der Philosophiefakultät zu schweben scheint.
Zum «Subjektiv» gehört auch Kai Matussik. Er macht gerne unanständige und freche Sachen, wie er selber sagt. Seine Bilder sind zum Teil ein Streifzug durch die Kunstgeschichte, mit Fussnoten zu berühmten Werken versehen. Es findet sich aber auch Gesellschaftskritik: der afrikanische Wursthändler, Plastik im Ozean, die Hoffnung der Flüchtlinge auf ein gutes Leben in Italien, ein Affe und ein Astronaut, die evolutionstechnisch miteinander verbunden die Friedenspfeife rauchen oder ein frühes Selfie.
Das Konzept der Ausstellung lädt ein, sich die Frage zu stellen, welche Möglichkeiten es gibt, um Kunstschaffende, die im Jetzt leben und arbeiten, zu fördern. Man kann beispielsweise in ein Gemälde oder ein Buch investieren. Vielleicht ist es aber auch einfach eine Begegnung, ein Besuch in einem nahegelegenen Atelier oder ein Kompliment, das die Kunstschaffenden weiter am Arbeiten hält.