, 23. Juli 2013
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Mehmet Ergezen setzt Hungerstreik fort

Seit zwei Wochen befindet sich Mehmet Ergezen im Hungerstreik. Der Asylsuchende fordert eine Umplatzierung, weil er psychisch traumatisiert sei. Ein Besuch in St.Margrethen.

Mehmet Ezgeren (links) mit Unterstützern.

Die Spitex-Mitarbeiterinnen notieren das Gewicht von Mehmet Ergezen. «55 Kilo», sagt die eine. «Am 17. Juli waren es noch 62», sagt die andere. Sie raten Ergezen, bei der Hitze viel zu trinken. Dann verlassen sie das Haus in St.Margrethen wieder. Der Kurde Mehmet Ergezen (im Bild links) befindet sich seit mittlerweile 15 Tagen im Hungerstreik.

In einem Schreiben hat er sich an verschiedene Stellen gewandt, unter anderem an die Firma ABS, die das Wohnhaus betreibt, die Gemeinde St.Margrethen, die der ABS den Auftrag erteilt hat, an Regierungsrat Fredy Fässler, Vorsteher des Justiz- und Polizeidepartements. Die dringende Forderung von Ergezen: Eine Umplatzierung. An diesem Montagnachmittag haben junge Aktivistinnen und Aktivisten, die ihn unterstützen, zu einem Solidaritätsbesuch eingeladen.

Ergezen, 29 Jahre alt, wirkt zierlich. Vielleicht ist seine schmale Figur auch nur die Folge des Hungerstreiks. Er hat schlaue Augen, spricht klar, manchmal lacht er. «Ich fordere erstens einen respektvolleren Umgang. Zweitens möchte ich, dass ich von hier weggehen kann: Ich muss mir mit fünf Personen ein Zimmer teilen.» Selbst ein Zimmer von der Grösse einer Toilette würde er nehmen. «Hauptsache, ich bin allein». Ergezen fühlt sich psychisch traumatisiert, seit er in der Türkei sechs Jahre in einem Gefängnis überleben musste, in dem es zur Folter kam. Er will endlich seine Ruhe.

In der Non-Zone

Das rosarote Haus in St.Margrethen wirkt friedlich. Doch es steht direkt hinter der Autobahn, der Eisenbahn, einer Kantonsstrasse. Durch die Fenster dringt ständig Verkehrslärm. Rund zwanzig Personen leben im Haus, darunter eine Familie. Im Schlafraum von Wohnung 1, der Ergezen zugeteilt ist, stehen sechs Kajütenbetten, abgetrennt nur durch ein Leintuch. Jeder Bewohner hat einen Metallspind, es gibt eine gemeinsame Küche. Auf den ersten Blick wirkt es wie im Ferienlager. «Auf Dauer kann man hier aber nicht leben», bestätigen zwei junge Tibeter. Ein Asylsuchender sei schon seit drei Jahren in Wohnung 1 untergebracht.

In der Nacht herrsche wegen der engen Verhältnisse eine Unruhe. Die Männer – Christen, Muslime, Buddhisten – hätten von ihrer Religion her unterschiedliche Kochgewohnheiten. Deutsch lernen können sie nur in der Integra-Schule des Solidaritätsnetzes, die Tickets für die Fahrt nach St.Gallen müssen sie allerdings selbst bezahlen. Manchmal können sie an einem Arbeitseinsatz der Gemeinde teilnehmen.

An den Protest nach St.Margrethen gekommen ist auch SP-Kantonsrat Etrit Hasler. «Diese Unterkunft ist ein oberirdischer Zivilschutzbunker», sagt Hasler. Notabene nicht für abgewiesene Asylsuchende, sondern für solche, die noch auf einen Entscheid des Bundesamtes für Migration warten. «An eine Privatsphäre ist nicht zu denken.» Sollte sich bestätigen, dass Ergezen traumatisiert sei, müsse er dringend umplatziert werden.

Zwei Mitarbeiter der ABS kommen zur wöchentlichen Anwesenheitskontrolle vorbei. Draussen vor der Tür folgt ein längeres Gespräch mit Hasler. Die Mitarbeiter verwahren sich gegen die Vorwürfe, sie hätten Ergezen herablassend behandelt. Doch gegenüber den Medien dürfen die «Prügelknaben an der Front», wie sie sich selbst nennen, keine Auskunft geben. Dabei wäre es ein interessantes Gespräch über die Asylpolitik geworden. Die Mitarbeiter hätten von ihrem sehr begrenzten Handlungsspielraum erzählt. Und irgendwann hätte einer gesagt, «dass die Politik in ihren Gesetzen die Asylsuchenden wie Schrauben behandelt. Doch die Menschen lassen sich nicht einfach einsortieren.»

Mehmet Ergezen mag stolz sein. Vor allem aber denkt er politisch. Einer lässt sich die systematische Schikanierung der Asylpolitik nicht mehr gefallen, weil er sie psychisch nicht länger aushält. Sein Protest wirft ein helles Licht auf die rechtliche und soziale Non-Zone, in der Flüchtlinge in der Schweiz oft jahrelang leben müssen.

Vorurteilslos und kostenneutral

«Die Verantwortung für Mehmet Ergezen wird auch zwei Wochen nach dem Beginn des Hungerstreiks zwischen der ABS, der Gemeinde und dem Kanton hin- und hergeschoben», kritisiert Giuliano Pasqualini, einer der Unterstützer. «Wir wollen auf die Zustände im Asylheim St.Margrethen und die Firma ABS aufmerksam machen, die als private, profitorientierte Firma ihr Geld mit der Notlage von Flüchtlingen verdient.»

Für den Entscheid über ein Asylgesuch ist der Bund zuständig, für die Unterkunft der Asylsuchenden sind es die Kantone. In St.Gallen müssen die Asylsuchenden eine erste Zeit in kantonalen Zentren, anschliessend werden sie auf die Gemeinden verteilt, wo sie gemäss Verordnung in «individuellen oder in Kollektivunterkünften» wohnen.

Für die Zuteilung ist die Vereinigung der St.Galler Gemeindepräsidenten zuständig, ein machtvolles Gremium im geografisch verzettelten Kanton. Wer ist für die Umteilung eines Asylsuchenden in eine andere Gemeinde zuständig? «Geht nicht», antwortet Geschäftsführer Roger Hochreutener barsch. Zugeteilt bleibt zugeteilt. Möglich sei nur, dass die Gemeinde eine andere Wohnung zur Verfügung stelle. Mache sie das nicht, bleibe noch ein Rekurs an den Kanton. Dann klopft Hochreutener ein paar Sprüche: «Das wäre ja noch, wenn einer in Mels oben hustet und wir das in St.Gallen unten klären.»

Gemäss dem Sozialhilfegesetz kann eine Gemeinde die Betreuung der Asylsuchenden an eine private Sozialhilfeinstitution übertragen. Hier kommt die ABS mit Sitz in Pratteln/Baselland ins Spiel. «Im gesetzlichen Rahmen, zuverlässig und vorurteilslos» bietet sie gemäss Eigenwerbung im Asylbereich ihre Dienstleistungen an. Und für die Gemeinden «kostenneutral». Maurizio Reppuci, Geschäftsleiter Bereich Migration bei der Firma, erklärt das Geschäftsmodell so: «Weil wir mehr Ressourcen haben, können wir eine straffere Betreuung gewährleisten.» So könne man in der Asylpolitik durchaus Geld verdienen. Über die Umsatzzahlen schweigt sich die Firma aus. Im Kanton St.Gallen arbeitet sie für die Gemeinden Rapperswil-Jona, St.Margrethen und Widnau.

Repucci hat selbst einen Augenschein bei Mehmet Ergezen in St.Margrethen genommen. Seiner Meinung nach «hat sich die Kritik an der Betreuung stark relativiert oder nicht bestätigt. Die Unterkunft in St.Margrethen ist eine der besseren Liegenschaften.» Es sei der Firma wichtig festzuhalten, dass sie mit Ergezen im Kontakt stehe. «Kann er mit einem Arztzeugnis bestätigen, dass er psychische Probleme hat, wäre das eine neue Situation: Dann wäre eine individuelle Unterbringung zu diskutieren.» Zuständig für den Entscheid darüber sei allerdings die Gemeinde als Auftraggeber.

Das Sprachrohr sein

«Ich bedauere, dass Herr M. E. in den Hungerstreik getreten ist», sagt Reto Friedauer, Gemeindepräsident von St.Margrethen. Die ABS mache ihre Arbeit kompetent, die Gruppenunterkunft würde den gesetzlichen Vorschriften entsprechen. «Die Gemeinde nimmt ihre Pflichten wahr». Neben den Spitex-Angestellten komme zweimal in der Woche der Amtsarzt vorbei, um den Mann im Hungerstreik zu beobachten. «Er befindet sich gesundheitlich in einem guten Zustand. Sollte sich an den medizinischen Indikationen etwas ändern, werden wir die Lage neu beurteilen.»

Dazu könne auch ein Arztzeugnis Anlass geben, das dem Asylsuchenden psychische Schwierigkeiten bescheinigt. Ein solches liege bis anhin allerdings nicht vor. «Wir stieren nichts durch», sagt Friedauer. Die Gemeinde habe aufgrund von ausgewiesenen medizinischen Bedürfnissen auch schon Personen in einer Wohnung untergebracht. Im vorliegenden Fall bestehe dafür derzeit kein Anlass.

Mehmet Ergezen hat letzte Woche einen Arzt besucht und will nun das Arztzeugnis abwarten. Bestätigt es ihm die psychischen Schwierigkeiten, will er ein Gesuch um eine andere Wohngelegenheit an die Gemeinde richten. Bis dahin setzt er seinen Hungerstreik auf jeden Fall fort. Und er bittet am Montagabend die AktivistInnen um weitere Unterstützung: «Ihr seid mein Sprachrohr.»

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