Scratches steht auf dem Titel des Buchs von Brigitte Schmid-Gugler. «Kratzer» wäre die wörtliche Übersetzung – Schrammen, Scharten, Narben aber vielleicht treffender für das, was in Gedichten, Fotografien und Zeichnungen festgehalten ist. Es sind Spuren der Versehrtheit, die entstehen, wenn etwas Raues etwas Weicheres ritzt. Der Stein ritzt hier die Mauer, das Wort die Träume, das Leben die Seele.
Aus den Notizbüchern von Brigitte Schmid-Gugler entsteht am Schreibtisch ganz Unterschiedliches: Theaterstücke, Reportagen und Geschichten, Kritiken, Kurzprosa – und dazwischen immer wieder auch Gedichte. Einen ersten Lyrikband hat sie 2020 unter dem Titel Aller Liebe eigen veröffentlicht.
Sammlung aus vielen Jahren
Die Texte und Bilder von Scratches sind zum Teil noch älter, ebenfalls über Jahre entstanden und nun unter einem Thema zu einem stimmigen Ganzen zusammengefasst in einem fast quadratischen, von Klaus Isele sehr sorgfältig gestalteten Band.
Manche der Texte sind datiert: Berg Karabach 2021, Sizilien 2018, Georgien 2017 … Trotzdem sind sie noch gültig, sie sprechen in unsere Zeit hinein. In eine Zeit, in der wieder vermehrt Mauern hochgezogen und Menschen vertrieben werden.
Flucht ist ein wiederkehrendes Thema in diesen Gedichten. Sie erzählen von der Sehnsucht der Menschen nach einem besseren Leben; jener Sehnsucht, die am Schiffsbug zerschellt, in Finsternisse fällt oder an einer Mauer endet. Und manchmal bleibt an der Mauer eine Botschaft zurück: «als wärs ein Gemälde / kriecht halb versengt / ein Wunsch / in die Anderswelt».
Spuren und Zeichen lesen
Solche Mauerbotschaften hat die Autorin auf ihren Reisen immer wieder fotografiert. Mit einem Stift oder einem scharfen Gegenstand hinterliessen Menschen hier Zeichen. Sie ritzten die Mauer – aber wahrscheinlich hat die Mauer sie genauso geritzt, eine Spur oder gar eine Narbe hinterlassen in ihrem Leben. Weil die Wand am Ende doch härter war als ein menschlicher Körper, trennend, schwer überwindbar.
Diese Mauern sprechen. Wohl sind die Schriftzeichen kaum entzifferbar, ab und zu eine Zahl, eine kleine Figur. Doch beim Betrachten wird alles zum Zeichen: Risse und Schraffuren, bröckelnde Farbschichten, (Schuss-?)Löcher. Ihre Geschichten geben sie letztlich nicht preis, doch die Augen streichen über die Flächen und bringen die Gedanken zum Fliegen.
In ihren eigenen Bildern nimmt Brigitte Schmid-Gugler die Mauerbilder auf. Sie legt Farbe über Zeichen, arbeitet in Schichten und mit rauen Texturen. Und immer wieder kratzt und ritzt sie, um Tieferliegendes hervorzuholen. Es sind Bilder, die von Schrammen, Scharten und Narben sprechen.
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Präzis gesetzte Worte
Wie den Fotografien sind den meisten der Gedichte kleine Geschichten eingeschrieben. Sie gehen von Begegnungen und Wahrnehmungen aus, die sie auf wenigen Zeilen verdichten und sie damit öffnen für neue Gedanken. Lyrismen wie die «flammige Süsse» sind selten, viel öfter entsteht Sinn aus alltagstauglichen Wörtern, die Schmid-Gugler auf Klang und Gehalt abtastet und neu zusammenfügt. So werden zum Beispiel die aserbaidschanischen Derwische zu «Schläfentrommlern», die den «Morgen ankratzen» mit ihrem Gesang, diesen «unbewohnten Wortkojen».
Gelegentlich prägt die Autorin eigene Wörter wie «abergeglaubt», «entbergen» oder den «Schattenschneider», dann wieder drückt sie ganz einfach «Brotkrümelmännchen in Lehmwespennester». Beim «Blindgängerspiel» der armenischen Kinder allerdings ist die Metapher vielleicht erschreckender Ernst.
Neben ihren Wortfunden spielen die Texte auch immer wieder mit Anspielungen etwa auf das goldene Vlies, die Erinnyen, das Haus Usher – und Beckett: dazu der witzige Zweizeiler «Warte hier auf mich!» / «Bin ich Estragon, oder was?»
Brigitte Schmid-Guglers Scratches sind zwar oft «Spielarten des Fallens», «Wundmale», «Abschied». Aber nicht nur, es gibt auch Leben, Farbe und Licht, ja sogar Märchen in diesem Band. Und eins der schönsten Gedichte ist voller Hoffnung:
In meinen Träumen
fallen Vögel
vom Himmel –
in deinen
sagst du
steigen sie auf
Brigitte Schmid-Gugler: Scratches. Edition Isele, Eggingen 2024, 80 Seiten
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