Marktplatz: Der neue Schwung
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Das Bänkli hat Schwung. Es ist schon fast tollkühn geschwungen – symbolträchtig für den Ort, wo es steht. Hier realisiert die Stadt St.Gallen seit dieser Woche, woran in langen Jahren manchmal kaum noch jemand geglaubt hatte: den autofreien Marktplatz.
Erste Anläufe dazu, so konnte man im Gespräch auf dem Bänkli erfahren, gab es im Stadtparlament, damals noch «Grosser Gemeinderat» geheissen, schon in den 70er- und 80er-Jahren. 1988 etwa hat der damalige SP-Parlamentarier Thomas Wepf eine Interpellation mit genau dieser Forderung eingereicht – daran erinnerte der VCS in seiner freudigen Pressemitteilung vom Montagmorgen.
Ein langes Ringen
Seit bald einem Jahrzehnt ist im Parlament und im Volk fast ununterbrochen um den Platz gerungen worden. Einen «Parkplatzkonsens», zwei Wettbewerbe, zwei Abstimmungs-Neins 2011 und 2015, ein Parkplatz-Aufhebungsverfahren mit zahlreichen Rekursen und einen breit angelegten partizipativen Prozess später ist der Marktplatz zwar immer noch nicht neu gestaltet. Weil es bis dahin noch dauere, solle ein Provisorium den Platz beleben, entschied drum im März der Stadtrat.
Mit der Befreiung des Platzes von den Autos sei «ein wichtiger Schritt getan, damit die Menschen im Zentrum stehen – nicht die Autos», schreibt der VCS. Die Menschen sollen aber nicht nur stehen, sondern sich bewegen: Auf den ehemaligen Parkplätzen sind die weissen Linien durch bunte, sich überkreuzende Striche ersetzt worden.
Ein Spiel soll daraus werden. Nach «Himmel und Höll» sieht es nicht aus; das wäre nach dem glücklichen Ende des langjährigen Streits auch unpassend. Nach «Eile mit Weile» auch nicht. 12 Zahlen stehen am Rand, entsprechend den 11 aufgehobenen Parkplätzen. Noch fehlt die Spielanleitung. Der Verlauf der farbigen Linien lässt neue Kollisionen befürchten.
Tatsächlich: ein neuer Platz!
Für SP und Grüne war die Befreiung des Platzes Anlass, die Bevölkerung am 1. April zum «kollektiven Feierabendgetränk, zum konspirativen Ideenaustausch oder einfach auf einen Schwatz» einzuladen. Es gehe nicht nur um den Anreiz, Bus und Velo statt Auto für die Fahrt ins Zentrum zu nutzen, sondern auch um die Aufwertung des Altstadtbildes, inklusive Grün, Sitzgelegenheiten und gastronomische Angebote.
Die Bewilligung zur temporären Bewirtung am 1. April hatten die Behörden erteilt, allerdings sei dabei eine Hürde aufgetaucht, erzählt Grünen-Parlamentarierin Franziska Ryser: Auf der Liste, die die für solche Aktionen vorgesehenen St.Galler Plätze aufführt, existiert der Marktplatz noch gar nicht. «Wir haben tatsächlich einen neuen Platz. Und erst noch einen grosszügigen», sagt sie.
Was darauf an «vielseitigen Nutzungen» passieren könnte, ist noch offen. Peter Olibet, Präsident der SP-Stadtpartei, lobt das Bänkli als einen Ort, wo man sich aufhalten kann und soll. Im übrigen sollten auch Freiflächen bleiben, offen für neue Ideen. Allerdings: Autos dürfen weiterhin durchfahren, nur nicht mehr parkieren. Das sei eine Schildbürgerei, fand ein Gast des Einweihungs-Umtrunks. Auch Olibet bedauert den «mangelnden Mut des Stadtrats»; damit bleibe der Markt weiterhin für nächtliche «Balzfahrten» offen. Und der VCS erinnerte «neben all der Freude» daran, dass die fussgängerfreundliche Begegnungszone in der Altstadt noch immer ein Flickwerk sei: «Die bereits erlassenen Zonen in der nördlichen und südlichen Altstadt müssen komplettiert werden.»
Offiziell gefeiert wird am Freitag; dann lädt Stadträtin Maria Pappa die Bevölkerung ein, vom Marktplatz Gebrauch zu machen.
Orakeln über die Grüne Welle
Die Platzbefreiung passt zum aktuellen Megathema, dem Klimawandel, auch wenn die Marktplatz-Diskussion entschieden älter ist als die aktuelle Klimastreik-Bewegung. Eine Woche nach den Zürcher Wahlen und am Tag nach dem «Klimahammer» in Baselland und Luzern, mit insgesamt 34 Sitzgewinnen in den Kantonsparlamenten für die Grüne und Grünliberale Partei, lag auf dem neuen Bänkli die Frage an Linksgrün auf der Hand: Wieviele Sitze gibt es im Kanton St.Gallen im Herbst?
Heute sind gerade einmal zwei von zwölf St.Galler Nationalratssitzen in der Hand der SP, die Grünen sind vor vier Jahren verdrängt worden. Die schwungvollen Antworten: Dan Hungerbühler, SP-Sekretär, prognostiziert unter Einbezug der Grünliberalen bis zu fünf Sitze, falls die Klimathematik so aktuell bleibt wie heute. Franziska Ryser (Grüne) hofft auf drei bis vier Sitze für Linksgrün. Der Kantonsrat wird erst in einem Jahr neu bestellt.
Fürs erste sind aber die Sitze auf dem Bänkli neu zu besetzen. Die Prognose ist nicht so schwierig: Sie werden begehrt sein. Besonders wenn wieder so ein warmer Sommer kommt wie letztes Jahr.