Man sieht sich auf der Strasse
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«Begegnungen beflügeln mein Werk. Gesichter, Erzählungen, Gespräche, Kleider und Begebenheiten.» Solche Begegnungen fielen jetzt in Coronazeiten weg, sagt Harlis Schweizer Hadjidj, und damit auch das Ungezwungene, Überraschende, das Beglückende, nicht genau zu wissen, wen man trifft oder nicht.
Ihr Bild-Projekt mit dem Titel «Passage / man sieht sich auf der Strasse» schafft eine Art Ersatz. Schauplatz ist das ausserrhodische Bühler, ein Ort, den viele nur als Strassendorf kennen, vom Durchfahren. Seit vier Jahren lebt Harlis Schweizer hier, lange Jahre hatte sie im Strahlholz, auf halbem Weg zwischen Bühler und Gais ihr Atelier. «Oft bin ich mit dem Auto unterwegs und fahre täglich an gleichen Menschen vorbei, die sich auf dem Trottoir der Hauptstrasse entlang bewegen. Ein schönes Bild, das so alltäglich und normal ist. Und dann kommt die Frage: Was sind das für Menschen? Wohin gehen sie? Von wo kommen sie? Was machen sie hier?»
Die Künstlerin wollte es wissen und hat, «mit etwas Überwindung», Passantinnen und Passanten angesprochen. Hat sie gefragt, ob sie sie zeichnen und die fertigen Bilder dann an der Hauptstrasse plazieren dürfe.
Fünfzehn solcher Porträts entstanden und fanden ihren Platz, immer in Absprache mit den Hausbesitzer*innen, an Mauern, aber auch am Abfallkübel beim Bahnhof oder an einem Brunnen.
Die Reaktionen fielen erwartungsgemäss unterschiedlich aus. Manche Leute hätte erfreut zugesagt, andere verwundert nachgefragt, was sie damit bezwecke, und ob das überhaupt Kunst sei. Von einzelnen kam auch ein Nein. Eine Frau wollte sich ausdrücklich porträtiert sehen, wenn sie mit ihren Eseln unterwegs sei. Ein Mann sagte erst zu und lehnte dann das fertige Bild vehement ab. Ein anderer zeigt Bekannten und Unbekannten stolz «sein» Porträt.
«Man sieht sich im Spiegel, macht Fotos oder wirft einen Blick ans Schaufenster. Aber dass wir Teil einer Landschaft, Umgebung, eines Bildes sind, während wir uns fortbewegen, warten, mit jemandem am Strassenrand sprechen, während der Durchgangsverkehr an uns vorbei donnert: Das ist, was ich festhalten will.» Das Alltägliche, Unaufgeregte und zugleich Einzigartige fasziniere sie und ist dank ihrer Kunst zu entdecken – aktuell in Bühler und voraussichtlich später auf einem Plakat versammelt.
Die spielerische «Dorfchronik», die so entsteht, passt für sie zum regionalen Fokus der Sammelausstellung «App’n’cell now», in deren Kontext sie das Projekt realisiert. Die Ausstellung in der Kunsthalle Ziegelhütte in Appenzell ist coronabedingt geschlossen. «Im Moment ist vieles geschlossen», sagt Harlis Schweizer. «Was bleibt also?»
Hinaus auf die Strasse zu gehen, sei eine Möglichkeit. Und dabei Malerei zu Leuten zu bringen, die vielleicht nie eine Kunsthalle betreten würden. «Wie fremde Menschen, die überhaupt nicht involviert sind, auf meine Arbeit reagieren, das hat mich seit jeher besonders interessiert und gibt mir ungeheuer viel.» (Su.)
Harlis Schweizer Hadjidj, geboren 1973 in St.Gallen, hat an der Ecole de décors de Théatre in Genf studiert und war als Theatermalerin tätig. Seit 1996 ist sie Freischaffende Künstlerin. Werkaufenthalte in Frankreich und Algerien. Atelier in Strahlholz AR, Zürich, Lausanne und St. Gallen.
Die Rubrik Blackbox ist im März 2020 als Antwort auf die Corona-Krise entstanden, als der Kulturbetrieb stillgelegt worden ist. Für das Publikum ist das schade, für viele Kulturschaffende weit mehr: eine existentielle Bedrohung. Die Saiten-Blackbox macht drum eine Bühne auf für Bilder, Texte, Filmbeiträge, Songs, Debatten und anderes. Kein Streamen um jeden Preis, sondern Originale sind hier zu sehen und zu hören, kurz kommentiert, erklärt oder einfach so.