«Man muss nicht – man kann»
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Das Güterbahnhof-Areal an einem Herbstabend Ende September: Es ist kalt und von weitem erhellt der Klang einer Trompete das brachliegende Gelände. Die Gruppe des Playback-Theaters St.Gallen macht sich bereit für ihren vierten und gleichzeitig auch zweitletzten Auftritt in diesem Jahr. Farbige Glühbirnen säumen die alten Stahlträger am Eingang der Lattich-Halle, drinnen herrscht eine halbe Stunde vor Vorstellungsbeginn noch Leere.
Suche nach Essenz
Playback-Theater leitet sich vom Begriff «Zurückspielen» ab und wurde im Amerika der 1970er-Jahre entwickelt. Dahinter steckt die Idee, dass spontan erzählte Lebensgeschichten ein wunderbarer Grundstock sind, um daraus improvisiertes Theater zu machen. Das Publikum wird dabei zum Teil einer Vorführung, indem es Geschichten mitteilen und Erfahrungen schildern kann, welche dann von den Schauspielenden wiedergegeben – also zurück zur Erzählperson gespielt – werden.
«Es geht dabei nicht um eine Eins-zu-eins-Rekonstruierung, sondern vielleicht eher um die Suche nach einer Essenz des Gehörten», erklärt Tobias von Schulthess, der Leiter des Playback-Theaters St.Gallen, beim Gespräch nach der Aufführung im Lattich. Er spielt diese Theaterform seit über zehn Jahren und kommt davon nicht mehr los.
«Mich fasziniert die grosse Themenvielfalt – Ernsthaftes wie Lustiges, Schweres wie Leichtes. Die ganze Palette an Emotionen kann während eines einzigen Auftrittes erscheinen.» Gleichzeitig gehe es aber auch darum, einen Dialog herzustellen unter dem Aspekt des Theaters, sowohl zwischen den Spielenden und dem Publikum als auch innerhalb der Zuschauenden. «Die einzelnen Geschichten sind oft miteinander verbunden», sagt er. «Jemand spricht von einer schweren Sicht auf ein Thema und jemand anderes von einer ganz leichten.»
Keine Interaktion = kein Theater
Laute Schreie hinter einem Vorhang. Die Theatergruppe wärmt sich ein. Die schlichte Bühne besteht aus drei Stühlen für die drei Spielenden und einer Leiter, auf welcher sich verschiedene Tücher befinden. Daneben eine Gitarre, die Trompete und verschiedene Perkussions-Instrumente. «Musik ist ein sehr passendes Element, um Emotionen zu untermalen und Stimmungen zu erzeugen. Man transportiert dadurch eine erzählte Geschichte in eine Sprache ohne Worte», schmunzelt Tobias.
Die Sitze füllen sich und das Ensemble tritt ins Licht, alle stellen sich vor. Meist steht ein Abend unter einem bestimmten Thema, um etwas Orientierung zu bieten. Dieses Mal steht die Frage «Wie lange noch?» im Zentrum. Das ist gewollt, passt es doch genau zum Lattich als Zwischennutzung und zur Überlegung, wie viel Zeit einem an diesem Ort noch bleibt.
Zu Beginn herrscht Stille. Wer will eine Geschichte erzählen? Die Spannung im Publikum ist spürbar, hie und da ein Räuspern, der Anfang braucht Überwindung. «Playback-Theater ist eine interaktive Angelegenheit und lebt auch von dieser Eigenschaft, aber es soll immer eine Einladung sein: Man muss nicht – man kann», antwortet Tobias auf die Frage, ob diese Interaktion nicht auch eine gewisse Zwanghaftigkeit beim Publikum auslöse.
Kultur, Frieden und Demokratie
Das Eis ist gebrochen, die ersten Geschichten sind erzählt. Ein älterer Herr enerviert sich lautstark über die Geldverteilung in unseren Breitengraden: «Wie lange muss ich noch zuschauen, wie Millionen für den Bau von Strassen ausgegeben werden, für Kultur aber immer weniger?» Eine Frau macht sich angesichts des wieder vermehrt sichtbaren rechtsextremistischen Gedankenguts Sorgen um den Frieden und die Demokratie in Europa.
Letzte Aufführung dieses Jahr mit dem Motto «Jetzt reicht’s»: 15. November, 20 Uhr, Militärkantine St.Gallen
Auf der Bühne werden diese Begriffe zu zwei aufeinander gestellten Stühlen, ein Schauspieler stösst dagegen, alles fällt zu Boden: «Mhm, nicht so stabil wie man meinen könnte.» Die Improvisationen spiegeln gekonnt die geteilten Geschichten, die beiden Musiker spielen dazu einen extrem genauen und passenden Soundtrack. Bald sind knapp 15 Geschichten gespielt. Der Abend ist kurzweilig, amüsant, authentisch und schnell. Applaus hallt nach.
Playback-Theater anzuschauen hat durchaus eine anstrengende Komponente. Man darf mitbestimmen, die eigene Stimme erheben und in gewisser Weise Regie führen – eine sehr demokratische Art des Theaters. Wer eine persönliche Geschichte für einmal von aussen betrachten möchte oder auch einfach nur spannendes Improvisationstheater sehen will, ist hier darum goldrichtig.
Dieser Beitrag erschien im Novemberheft von Saiten.