, 6. November 2017
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«Man kann auch ohne Comic Sans Wärme in einen Text bringen»

Aus dem Novemberheft: Roland Stieger vom Projektteam der Tÿpo St.Gallen über unterbewusste Kaufentscheide, den Wert von Grenzüberschreitungen und Typografie im Alltag.

Roland Stieger: «Type-addicted», Schriftdesigner, Co-Lehrgangsleiter an der GBS und im Projektteam der Tÿpo St.Gallen. (Bild: Ladina Bischof)

Saiten: Resonanz ist das Thema der diesjährigen Tÿpo St.Gallen. In der Vorschau heisst es: «Wir brauchen doch alle ein bisschen Zuspruch.» Habt ihr das Gefühl, die Grafik- und Typografieszene hier hat zu wenig Resonanz?

Roland Stieger: Ein bisschen mehr darf es natürlich immer sein, aber das Thema ist gar nicht so sehr aus diesem Fokus heraus entstanden. Es geht vielmehr darum, dass man mit allem, was man tut, Resonanz auslöst. Man kann alles im Leben durch diese «Resonanz-Brille» betrachten, so ungefähr beschreibt es auch Hartmut Rosa in seinem Buch Resonanz – eine Soziologie der Weltbeziehung. Resonanz ist in der Musik ein Thema, in der Arbeitswelt, in zwischenmenschlichen Beziehungen usw. – und selbstverständlich auch in der Grafik und im Design.

Inwiefern?

Es gibt zum Beispiel Agenturen, die argumentieren, dass Kaufentscheide zu 90 Prozent aufgrund des visuellen Eindrucks gefällt werden und nur zu zehn Prozent logisch begründet werden können. Ich selber bezweifle zwar, dass dieses Verhältnis wirklich so krass ist, bin aber auch überzeugt, dass Design und Grafik mit ihrer intuitiven, unterbewussten Komponente einen fundamentalen Einfluss auf uns Menschen haben und immerzu «mitschwingen».

Geht es eher punktuell um Resonanz oder steht sie bei allen Fachvorträgen im Zentrum?

Unser Wunsch wäre, dass alle Referentinnen und Referenten darauf Bezug nehmen, dementsprechend haben wir sie auch ausgewählt. Bisher stand das Tagungsthema – 2011 war es «Typisch Schweiz?», 2013 «Weissraum» und 2015 beschäftigten wir uns mit dem Thema «Tempo» – für unseren Geschmack etwas zu wenig im Fokus. Dieses Jahr soll es anders sein.

Wen habt ihr eingeladen?

Das Spektrum ist breit: Wir haben Gäste, die reines Typedesign machen wie zum Beispiel Nina Stössinger, aber auch solche, die von anderen Gebieten her kommen, etwa die Illustratorin Silja Götz, den Buchcover-Spezialisten David Pearson oder den Schauspieler Matthias Flückiger, der ein Stück über verlorene Buchstaben rezitieren wird. Auch Musik ist natürlich ein Thema, Ohr und Auge gehören schliesslich zusammen; am Samstag ist Remo Caminada zu Gast. Er hat Interaction Design und Visuelle Gestaltung studiert und vor kurzem noch ein Studium in Gesang und Komposition angehängt. Beim Thema Resonanz musste er einfach dabei sein, zumal es gerade in der Gestaltung auch oft um Rhythmus geht. Und am Samstag feiern wir noch die Vernissage des Buchs Zusammenklang von Karl Schimke, der letztes Jahr zusammen mit Natalja Marchenkova-Frei das Konzert mit allen Kirchenglocken komponiert und organisiert hat.

Tÿpo St.Gallen 2017: 10. bis 12. November, Gewerbliches Berufs- und
Weiterbildungszentrum St.Gallen, Anmeldung erforderlich
typo-stgallen.ch

Potentiale 2017: bis 12. November, Pulverturm Feldkirch
potentiale.at

Wo sind die Ostschweizerinnen und Ostschweizer – abgesehen vom Buchgestalter Jost Hochuli, der ja zu den Stammgästen gehört an der Tÿpo St.Gallen?

Berechtigte Frage. Wir haben alle möglichen Aspekte zu berücksichtigen versucht: Alter, Themen- und Arbeitsgebiete, Herkunft und natürlich auch das Geschlecht – dieses Jahr sind über 50 Prozent der Gäste Frauen. Was die Herkunft angeht, war es etwas schwieriger. Weil wir irgendwann gemerkt haben, dass ein grosser Teil unserer Referentinnen und Referenten heute nicht mehr dort wohnt, wo sie aufgewachsen sind. Das zieht sich fast wie ein roter Faden durchs Programm: Wir haben zum Beispiel Basler, die heute in New York oder Wien leben, eine Wienerin, die ursprünglich aus dem Voralberg kommt und eine Moskauerin, die in München wohnt, die Illustratorin aus Bayern, die in Spanien wohnt. Remo Caminada ist Bündner und ein Ostschweizer im weiteren Sinn, lebt zurzeit allerdings in Italien. Die Ostschweiz ist also vor allem mit Jost Hochuli, Hans Peter Kaeser, dem Sitterwerk und unserem Rundgang in der Stiftsbibliothek am Sonntag vertreten.

Angesichts der vielen Besucherinnen und Besucher aus dem umliegenden Ausland braucht die Tÿpo St.Gallen vielleicht ja gar nicht so viel Ostschweiz-Bezug?

So könnte man auch argumentieren, ja. Mich persönlich interessierte der Schritt über die Grenze schon immer sehr – ein absolutes Herzensthema. Schauen wir einige Jahrzehnte zurück: Die Schweizer Typografie wäre niemals zu dem geworden, was sie heute ist, wären im Zweiten Weltkrieg nicht so viele Kreative in die Schweiz gekommen, die sich mit den Einheimischen «verbündet» und neue Kräfte freigesetzt haben. Das funktioniert bis heute so.

Die Tÿpo St.Gallen ist also vor allem auch eine gute Gelegenheit, sich mal nicht im eigenen Saft zu drehen.

Klar! Die eigene Perspektive zu erweitern ist ohnehin extrem wichtig. Mein erster Besuch an der Tÿpo Berlin im Jahr 2000 beispielsweise war ein kreativer Meilenstein. Seither besuche ich regelmässig Konferenzen im In- und Ausland, nicht zuletzt, weil es auch dabei hilft, sich ein Netzwerk aufzubauen und dieses zu pflegen.

Das Alphabet der guten Nachbarschaft, Buchpräsentation mit Jost Hochuli: 10. November, 19:30 Uhr, anschliessend Apero

Bleiben wir bei der Grenzüberschreitung: Was ist das für ein Buchprojekt, das Jost Hochuli am Freitag vorstellt?

Das Alphabet der guten Nachbarschaft ist in Zusammenarbeit mit der Potentiale entstanden, dem Festival zur Stadtraumgestaltung in Feldkirch, das dieses Jahr einen Schwerpunkt Typografie hat. Das Buch erzählt in 26 Kurzgeschichten, was die Ostschweiz mit dem Vorarlberg verbindet und umgekehrt. Jost Hochuli hat die Buchgestaltung gemacht, ich habe ihn in der Organisation und Koordination unterstützt. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit haben wir am 26. Oktober auch einen «Typotag für die ganze Familie» organisiert. Dieser Bereich interessiert mich sehr, weil ja jede Person, die beispielsweise mit Word arbeitet, ebenfalls Typografie macht. Fast alle überlegen sich, wie man den Titel gestaltet, welche Schriftgrösse man für den Lauftext wählt oder wie man Zwischentitel und anderes abheben kann usw. Oder anders gesagt: Ich will zeigen, dass man auch Wärme in einen Text bringen kann, ohne Comic Sans zu verwenden.

Dieser Text erschien im Novemberheft von Saiten.

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