«Man hat sich zu lange die Wunden geleckt»
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Saiten: Was macht eine Trendforscherin?
Monika Kritzmöller: Ich analysiere Gesellschaften anhand von Objekten. Wenn man Autos, Stühle, Gebäude oder auch die Mode genauer betrachtet, kann man sehen, in welche Richtung sich eine Gesellschaft entwickelt. Walter Benjamin sagte in den 30er-Jahren über die Mode: Wenn man sie interpretieren würde, könnte man Kriege, Gesetzgebungen oder Konflikte vorausdeuten, da sich gewisse Entwicklungen oder Strömungen auch in der Mode abbilden.
Welche Trends stellen Sie aktuell fest?
In Europa hält wieder eine gewisse Eleganz Einzug, ganz sachte. Die Mode orientiert sich nicht wie noch vor einigen Jahren an destroyed oder used Looks, sondern eher wieder am erhabenen Stil der 30er- und 40er-Jahre. Ich sehe darin eine gewisse Suche nach Halt.
In dieser irren Welt ist es durchaus nachvollziehbar, dass man sich nach dem Klassischen, dem Vertrauten sehnt.
Absolut! Und Dinge sind ja nicht nur Oberflächen, sie verkörpern auch immer etwas. Wir vergegenwärtigen uns mit der Wahl unserer Kleider, eines Autos oder einer Inneneinrichtung ununterbrochen eine Identität. Wenn zum Beispiel ein Unternehmen einen roten Rasenmäher anbietet, der Testarossa heisst, sagt das einiges über die Firma und deren Bild von der Zielgruppe aus.
Im August startet der HF-Lehrgang Textildesigner/in, den sie konzipiert haben. Welchen beruflichen Hintergrund sollte man für diese Weiterbildung mitbringen?
Sie brauchen eine Grundbildung im textilen Bereich, beispielsweise eine Ausbildung als Textiltechnologin, im Interieur-Bereich oder einem Couture Atelier. Der Lehrgang ist als Weiterbildung angelegt und verlangt eine 50-Prozent-Anstellung in einem «artverwandten» Betrieb oder einer selbständigen Tätigkeit. Inhaltlich ist die Ausbildung sehr breit gefächert: Wir vermitteln eine Menge verschiedener Techniken wie Handweben, Stickerei, Siebdruck oder 3D- Druck, beschäftigen uns aber auch mit Stil, Trendforschung, Kulturgeschichte und Fragen des Managements.
Modedesign, Nähhandwerk und Stoffdesign galten lange Zeit als Frauendomänen. Hat sich in Sachen Textildesign diesbezüglich in den vergangenen Jahren etwas getan?
Der Beruf ist nach wie vor stark von Frauen geprägt. Wobei ich das gar nicht so verkehrt finde, schliesslich gibt es auch viele Bereiche, die sehr männlich geprägt sind. So gesehen darf das Textildesign ruhig frauenlastig bleiben.
Bruno Müller vom Amt für Berufsbildung sagte der «Ostschweiz am Sonntag» im Oktober, dass der neue Weiterbildungsgang einem Marktbedürfnis entspreche. Wieso kommt er erst jetzt?
Das hat, denke ich, viel zu tun mit einem gewissen «Textiltrauma», das in der Ostschweiz steckt. Einerseits trauert man noch der Stickereiblüte nach, andererseits ist man sehr stolz auf diese glorreiche Vergangenheit. Man hat sich wohl ein bisschen zu lange die Wunden geleckt, deshalb entwickelt sich erst jetzt langsam wieder ein Selbstverständnis, das sich an der Zukunft der Branche orientiert.
Und es gibt Cracks, junge wie Armando Forlin oder gestandene wie Martin Leuthold, Kreativchef der Jakob Schläpfer AG und seit kurzem Träger des städtischen Anerkennungspreises. Wie wichtig sind solche «Aushängeschilder» für das textile Selbstverständnis der Ostschweiz?
Sehr wichtig! Sie bringen den Glanz in die Gegenwart und haben auch eine starke Vorbildfunktion. Diese braucht man, um in der Branche wieder Mut zu fassen und zu sagen: Ja, wir gehen voran. Denn Chancen gibt es für die Ostschweiz reichlich im Textilbereich. Wir haben nach wie vor ein gigantisches Netzwerk, eine gelebte Textilkultur und auch erfolgreiche Unternehmen in der Region.
Infoanlässe:
12. Januar, 16. März, 6. April und 18. Mai, 19 Uhr, Schule für Gestaltung St.Gallen
gbssg.ch
Wo liegen die Möglichkeiten des Textildesigns ausserhalb der Modewelt?
Unser Lehrgang basiert auf dem Rahmenlehrplan Gestaltung. Wir fokussieren uns deshalb auf sichtbare Textilien, die einen ästhetischen Wert haben. Dazu gehören selbstverständlich alle Arten von Kleidern, aber auch Dinge wie Pols- ter, Vorhänge, Beleuchtungssysteme, Auto- oder Zugsitze und so weiter.
Sie sagen, dass der Lehrgang «in enger Vernetzung mit Unternehmen und Institutionen der Region» steht. Was heisst das konkret?
Einerseits sind wir in ständigem Kontakt mit den Unternehmen in der Region und besuchen diese auch mit den Studierenden, andererseits konnten wir viele Dozentinnen und Dozenten aus der Praxis für den neuen Lehrgang gewinnen. Gespräche mit der Praxis geben uns zudem wichtigen Ein- blick in Entwicklungen und Anforderungen, wobei unser Angebot nicht einfach darauf beruht, auf aktuelle Bedürfnisse zu antworten. Das wäre zu kurzfristig, zu wenig zukunftsweisend gedacht.
Es gehe auch darum, den Wirtschaftsstandort zu stärken und talentierte gestalterische Kräfte in der Ostschweiz zu halten, sagt Kathrin Lettner von der Schule für Gestaltung. Dafür braucht es entweder unternehmerisch denkende Selbständige oder Arbeitsplätze bei etablierten Firmen – gibt es genug davon in der Ostschweiz?
Von Unternehmerseite höre ich immer wieder: Wenn wir Leute brauchen, dann im Design. Ob die Stickmaschine in St.Gallen oder in Thailand steht, spielt keine Rolle, sie stickt immer gleich gut. Entscheidend ist also das Design, und das muss von hier kommen. In der Ostschweiz haben wir ein über Generationen gewachsenes Stilempfinden, ein gestalterisches Selbstverständnis, ähnlich wie im Grafikdesign und in der Typografie. Kreativität ist eine unserer wichtigsten Ressourcen. Das müssten wir nutzen. Bei den hier ansässigen Spitzenunternehmen gibt es aber beileibe nicht für alle Abgängerinnen und Abgänger eine freie Stelle, da muss ich ehrlich sein. Doch jedes erfolgreiche Unternehmen ist einmal gegründet worden – und darauf setzen wir.
Ist das Enterpreneurship deshalb so ein wichtiger Bestandteil des neuen Lehrgangs, oder anders gefragt: Hoffen sie auf viele neue Textil-Start-Ups?
Absolut! Das ist mir fast noch wichtiger als die Arbeitsplätze, die in den Unternehmen zur Verfügung stehen. Man soll sich nicht schicksalshaft fragen «Finde ich denn da Arbeit?», sondern man soll sich die Arbeit selber machen. Im Mode- design gibt es kleine, schicke, nachhaltig arbeitende Labels – warum nicht auch im Stoffdesign? Das wäre die konsequente und im Moment noch ausstehende Antwort auf diese Entwicklung.
Dieser Beitrag erschien im Januarheft von Saiten.