Männerwelten im Tränengas

Bei aller Schwierigkeit, die Tumulte um Ostern irgendwie einzuordnen: Das Geschlechterverhältnis unter den Jugendlichen bietet Anlass für ein paar Gedanken zum Verhältnis von Männlichkeit und Gewalt und zur Sehnsucht nach Anerkennung. 

Von  Matthias Fässler
Screenshot: TikTok, @00dijs

Wie aus einem Musikvideo: In den dunklen Strassen der Stadt hängen Tränengas-Wolken und der Rauch von angezündeten Mülltonnen in der Luft, im Hintergrund heulen Polizeisirenen, über der Stadt kreist ein Hubschrauber. Die Strassenlaternen sorgen für ein düsteres, warmes Licht. Vermummte Jugendliche breiten lüstern ihre Arme aus und marschieren breitbeinig in Richtung der Polizist:innen, die ihnen in Vollmontur gegenüberstehen. Es fliegen Flaschen, Steine, Molotowcocktails. Dann, fast wie auf Kommando, reihen sich plötzlich mehrere junge Männer in einer Linie auf und beginnen, Liegestütze zu machen. Fünf, zehn, zwanzig. Wer schafft die meisten?

Es ist eine Szene, auf den ersten Blick komplett durchgeknallt, diffus, unverständlich. In den Gesichtern der jungen Männer liegt ein Grinsen, eine erstaunliche Zufriedenheit, wo rundherum gerade alle den Stadt- und Sittenzerfall befürchten und herbeifantasieren.

Minuten später wird die Szenerie tatsächlich zum Musikclip: Auf der App TikTok veröffentlicht jemand ein Video davon und unterlegt sie mit Musik des deutschen Rappers Haftbefehl. «Hater haten, denn ich lebe Leben.» Das Video wird mehr als 38’000 Mal angeschaut und geliked, mittlerweile zählt es mehr als 1800 Kommentare.

 

Wenn man sich die Mühe macht und nicht dem liberalen Reflex verfällt, die Ereignisse einfach als unpolitischen und inhaltslosen Stumpfsinn zu erklären, nur weil man vielleicht nicht auf den ersten Blick versteht oder verstehen will, was da passiert ist, dann steht man noch etwas verdutzt vor der Frage: Was ist hier gerade passiert? Und warum ist es geschehen?

Anrekennung durch Risiko

Man landet dabei unweigerlich bei der Feststellung, dass die Mehrzahl der Jugendlichen an diesem Abend männlich war. Bei jenen, die die offene Konfrontation mit der Polizei suchten, war das Geschlechterverhältnis noch eindeutiger.

Der Soziologe Michael Meuser hat in einem lesenswerten Beitrag zur Aneignung von Männlichkeit festgehalten, dass solche Formen von Risikohandeln bei männlichen Individuen in der Jugendphase häufiger vorzufinden seien als bei Mädchen und Frauen. In diesem Handeln finde eine Art «Einübung in den männlichen Geschlechtshabitus» statt. Darüber hinaus gehe es dabei vor allem darum, Anerkennung unter Gleichaltrigen zu

gewinnen. Typisch für ein solches Risikohandeln sei, dass es nicht in individueller Abgeschiedenheit stattfinde, sondern in einem kollektiven Rahmen, oftmals gemeinsam mit anderen Männern oder Jungen. «Es benötigt offensichtlich ein mehr oder minder grosses Publikum», schreibt Meuser.

Das Publikum und die Anerkennung war den jungen Männern an diesen Abenden in St.Gallen gewiss – nicht nur in der Stadt, physisch vor Ort, durch mehrere Hundert Gleichaltrige, sondern auch medial über Social Media, Livestreams, Zeitungen und über die Berichterstattung im Nachhinein.

Es war eine Sichtbarkeit, die die Jugendlichen selber geschaffen hatten, indem sie sich organisierten. Und zwar nicht, indem sie eine Petition einreichen oder sich einer Jungpartei anschlossen. Sondern über Aufrufe in Sozialen Medien, die so vielen unbekannt und suspekt sind, dass sie von der Masse und Dynamik überrumpelt sein mussten. Die Jugendlichen erreichen über diese Kommunikationsformen innert Kürze Klickzahlen, von denen die meisten etablierten Medienhäuser nur träumen. Das Unverständnis über die Ereignisse ist immer auch ein mediales, ein kulturelles.

Männliches Sozialisationsritual par excellence

Interessant war, dass im eingangs beschriebenen Moment auf der Kreuzung nicht nur ein Kräftemessen mit der Polizei stattfand, sondern auch eine Art Wettbewerb untereinander. Paradoxerweise mass man sich just in dem Moment, in dem aus der Sicht der Jugendlichen kollektives Handeln notwendig gewesen wäre, um gegen die Polizei zu bestehen, auch untereinander. Wer schafft die meisten Liegestütze?

Hier wird jenes Verhältnis unter den männlichen Jugendlichen sichtbar, das Meuser mit Bezug auf Bourdieu als «Partner-Gegner» beschreibt: «Wettbewerb und Solidarität gehören zusammen». Solidarität unter den männlichen Jugendlichen, aber auch im Kampf gegen die Polizei. In keiner Szene zeigt sich dies besser als bei den kollektiven Liegestützen. Sie lesen sich mit Bezug auf Meuser als männliches Sozialisationsritual par excellence.

Es sind jedoch nicht nur Jungen und Männer, die riskant handeln. Meuser beschreibt auch dass Risikohandeln von Frauen. Dieses findet im Gegensatz zu Männern aber stärker im privaten, nicht öffentlichen Raum statt und zeigen sich häufige am eignen Körper, etwa durch Essstörungen oder Medikamentenmissbrauch. Auch das männliche Risikohandeln sei ein Handeln, so Meuser weiter, bei dem nicht selten die Unversehrtheit des eigenen Körpers aufs Spiel gesetzt wird. Es zeigte sich auch am Abend selbst eine Art Männlichkeit, die sich darüber definiert, besonders gleichgültig gegenüber den Konsequenzen des eigenen Handelns zu sein.

Man rieb sich schon ein wenig die Augen ob so viel Entschlossenheit. Aber auch ob so viel Naivität und Glauben, man könne diesen kleinen Kampf gegen die Polizei wirklich gewinnen. Unvermummt, bewaffnet mit ein paar Flaschen und Baulatten. Die spätere Empörung über das Ausmass an Gewalt konnte dann nur von jenen kommen, deren Leben so sehr von unmittelbarer Gewalt verschont ist, dass sie sich nur wundern konnten.

Nur wer keine Zukunft hat, kann sie sich so sorglos verbauen

Im Leben vieler Jugendlicher ist Gewalt hingegen omnipräsent. Sie wachsen in Quartieren auf, die sich nicht eignen für Kunstinstallationen von Pipilotti Rist, sie hören Musik von Künstler:innen, die eigene Gewalt- und Drogenerfahrungen genauso besingen wie ihren Hass auf die Polizei. Künstler:innen aber auch, die davon singen, wie sie es geschafft haben, diesem gewaltförmigen Leben zu entfliehen, ironischerweise gerade, indem sie sich besonders gewalttätig, skrupellos und hart verhalten haben. Und mit ihrem Maybach nun in jenen Quartieren posieren, in denen sie aufgewachsen sind und die sie mittlerweile verlassen haben.

Diese Konfrontation mit der Polizei, dieses Kräftemessen auf der offenen Kreuzung ist letztlich auch der Versuch, sich über Körperkraft Anerkennung zu verschaffen, die einem ansonsten wohl allzu oft verwehrt bleibt: in der Schule, im Arbeitsalltag, zuhause. Es ist ein Alter, in dem man vielleicht zum ersten Mal feststellt, dass das nicht nur von den Rapper:innen besungene neoliberale Versprechen, wonach es alle schaffen können, sich nicht so leicht erfüllt. Dass es zum Maybach und dem eigenen Haus nicht reichen wird, so sehr man sich auch anstrengt, in der Lehre, in der Schule.

Mit Blick auf die drohenden rechtlichen Konsequenzen, die hohen Bussgelder für die Krawalle könnte man sagen: Nur wer keine Zukunft hat, kann sie sich so sorglos verbauen.

Die Coronamassnahmen, die natürlich Leute besonders hart treffen, die in prekären Verhältnissen leben, mögen ihren Teil zur Eskalation beigetragen haben. Sie sind aber nicht mehr als ein Anlass, ein Verstärker. Am Grundkonflikt und der Frustration, dem Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung und Sichtbarkeit ändern sie gar nichts.

Matthias Fässler, 1990, ist Historiker, recherchiert aktuell zu Geschichte der Ausschaffungen in der Schweiz und schafft an guten Tagen sieben Liegestütze.