M oder F reicht nicht, tamisiech!
Ich reg mich so auf. In Deutschland hat ein Mensch seinen Geschlechtseintrag streichen lassen – das geht dort –, und zurück in der Schweiz, wo die Person herkommt, hat ein Gericht das zuerst anerkannt: dass der Geschlechtseintrag in Deutschland gestrichen wurde. Aber es wurde angefochten.
Jetzt muss dieser Mensch darum kämpfen, dass seine Existenz und Identität nicht wieder registriert werden. Womöglich landet der Fall am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Fassen wir zusammen: In der Schweiz gibt es Frauen, in der Schweiz gibt es Männer, und in der Schweiz gibt es Menschen, die zu keiner der Kategorien eindeutig dazugehören. Nichtbinäre Menschen. Weil sie ihr Häkli zufällig nicht bei «M» oder «F» setzen, anerkennen wir sie nicht? Schliifts?
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Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin. (Illustration: Lukas Schneeberger)
Es wäre naiv, zu glauben, dass alle Lesenden bereits verstehen, wovon ich rede, denn den allermeisten von uns wird dieses Wissen nicht in der Schule beigebracht. Wir lernen Vektorgeometrie, wir lernen Berggipfel auswendig, wir lernen, warum der junge Werther gelitten hat, aber wir lernen nichts über nicht-binäre Menschen. Über was? Eben.
Also. Wir wachsen alle auf mit der Vorstellung, dass Geschlecht das ist, was unser Körper ist. Ein Baby hat die eine Art von Körper, dann ist es ein Mädchen. Ein Baby hat die andere Art von Genitalien, dann ist es ein Bueb.
Das ist schon deshalb kompletter Humbug, weil 1,7 Prozent aller Körper nicht eindeutig binär sind. Das nennt sich dann Intergeschlechtlichkeit und ist damit gleich häufig wie Rothaarigkeit.
Aber hier geht es eben nicht um Körper. Denn Geschlecht – englisch: gender – ist ein inneres Wissen darum, wer und was wir sind. Gender ist nicht das zwischen den Beinen. Sondern das zwischen den Ohren. Eine Identität.
Diese Identität wird uns zugewiesen bei unserer Geburt. Bei vielen stimmt die Zuweisung, dann sind sie cis. Das ist das, was als «normal» gilt. Bei manchen aber stimmt diese Zuweisung nicht, und das ist dann trans. Der Schauspieler Elliott Page zum
Beispiel war lange in der Rolle einer Frau, bevor er sich geoutet hat als trans Mann. Der Tessiner Social-Media-Star Raffaela Zollo checkte mit 13, dass sie gar kein Junge ist, sondern eine trans Frau. Das gibts.
Und jetzt haltet euch fest: Es gibt auch trans Menschen, die nichts von beidem sind. Die einfach wissen, dass sie nicht Frau oder Mann sind. (Oder es erahnen, Gender ist keine Mathematik.)
In der Schweiz wird das hart ignoriert. Im privaten Umfeld, klar, aber eben auch an Arbeitsplätzen, in Formularen – und beim Staat. Warum gibt es zwei Kategorien, wenn es mehr Identitäten gibt? Schweiz, was soll dieses Aberkennen von Existenzen?!
Ich weiss, das widerspricht vielem, was uns von Geburt an beigebracht wurde. Was Gender eigentlich ist und dass es mehr als zwei gibt, ist nicht für alle leicht zu verstehen. Aber eben: Gender ist keine Mathe. Ich checke Zahlen auch nicht mega gut, und trotzdem anerkenne ich, dass es unendlich viele gibt. Dasselbe mit Berggipfeln. Und Pflanzensorten und Farbbezeichnungen und Tierli.
Wir müssen Vielfalt nicht bis ins letzte Detail verstehen, um ihre Existenz zu anerkennen. Und zu checken, dass zwei Kategorien für sehr vieles nicht reichen.
Dieser Beitrag erschien im Dezemberheft von Saiten.