«Lueg, Bro, alles voll Gummischrot!»

«Krawallbrüder!», «Stellungskrieg!», «Molotowcocktails!» – an Ostern explodierten die Schlagzeilen zu St.Gallen. Schnell waren die Meinungen in den Sozialen Medien gemacht, die Kommentare der Chefredaktoren geschrieben, die Analysen der Fachleute eingeholt.
«Die Jugendlichen» selber wurden, wenn überhaupt, erst im zweiten Moment gehört. Das mediale Interesse galt vor allem den führenden Köpfen der Jungparteien. Definitiv die falschen Adressaten. So oder so, die Deutungshoheit darüber, was passiert ist und wie es soweit kommen konnte, oblag den Alten und den Frühreifen.
Dieser Text soll keine Einordnung, weder Rechtfertigung noch Verurteilung sein. Er will vor allem eines: fünf jungen Erwachsenen, die an den sogenannten «Osterkrawallen» in St.Gallen dabei waren, das Wort geben. Wie geht es ihnen? Was treibt sie um? Wie kam es zur Eskalation? Nachfolgend schildern Haze (16), Marc (18), Leo (18), Aliyah (19) und Jovan (21), die alle in Wirklichkeit anders heissen, ihre Sicht auf die Ereignisse.
26. März: Endlich wieder feiern
Die überbordende Gewalt der ersten Krawallnacht war nicht geplant. Darin sind sich die fünf Beteiligten, mit denen Saiten sprechen konnte, einig. Der erste Freitag ist vielmehr als Fortsetzung jener «illegalen» Partys zu sehen, die kurz zuvor schon in der Stadt stattgefunden hatten. Nach der ersten Feier mit etwa 50 Leuten Anfang März in einem Lokal Nähe Bahnhof folgte wenige Tage darauf eine mit über 90 in einer Wohnung und im Treppenhaus.
«Es war so schön, wieder mal ein paar Menschen zu treffen und zu erfahren, wie sie mit der ganzen Situation umgehen», erinnert sich Haze an die «50er-Party». Marc sagt: «Diese Party war im Grunde der Auslöser für alles. Es gab die Polizeimeldung und die Medien berichteten. Danach dauerte es zwei oder drei Tage und schon stieg die nächste Party mit 90 Leuten.»
Das Gefühl, es müsse jetzt endlich wieder etwas gehen, hat sich damit nur noch verstärkt. Der Aufruf zur Party am 26. März auf Drei Weieren kam aus Haze’ Freundeskreis: «Eigentlich haben wir nur mit fünf oder sechs Kollegen abgemacht, um in den Weieren ein bisschen feiern zu gehen. Dann fand jemand, komm, wir schreiben das in Snapchat und schicken es nur an Personen, die dichthalten.»
Haze, 16, hat südosteuropäische Wurzeln und ist im Heiligkreuz aufgewachsen. Sie hatte schon früh «Stress mit der Polizei», unter anderem wegen unerlaubten Waffenbesitzes. «Mir war immer bewusst, was ich tue», sagt sie, «ich stehe dazu.» Seit ihrer Entlassung aus dem Jugendarrest lebt sie in einer sozialpädagogisch betreuten Wohngruppe. Derzeit macht sie ein Praktikum in einer Kinderpsychiatrie. Die Arbeit gefällt ihr, passe zu ihrer «ausgeprägten Sozialkompetenz». Das Ziel: Fachfrau Betreuung, danach Höhere Fachschule und irgendwann in der forensischen Alltagsbegleitung arbeiten.
LSD, Xanies, Koks, MDMA, Gras: Haze hat schon vieles probiert. Letztes Jahr ist ein Freund von ihr an einer Überdosis Benzos gestorben. Von aufputschenden Substanzen wie Speed oder Kokain hält sie nichts, da sie ohnehin «tendenziell hyperaktiv» ist. Gras war darum lange die Substanz ihrer Wahl. «Das holt mich runter. Vor sechs Monaten habe ich aber mit allem aufgehört. Heute trinke ich nur noch Alkohol. Seither bin ich stabiler und kann mein Potenzial besser nutzen.»
Geplant war eigentlich, dass sich Fünfer- oder Zehnergrüppchen bilden. Man habe sich bewusst für die Weieren entschieden, weil es dort genug Platz gibt, damit sich die Leute verteilen können. Ein Kollege, der schon etwas früher oben war, meldet, dass bereits Zivilpolizisten vor Ort seien. «Wir dachten, was können die uns anhaben, solange wir uns an die Massnahmen halten», sagt Haze.
Der Snap sei nur privat verschickt worden. Aber «irgendein vollbehinderter Spast» habe ihn dann doch in der öffentlichen Story gepostet, die Nachricht fand den Weg sofort bis nach Zürich. Et voilà, «schon standen all die 13-jährigen Girlies auf dem Roten Platz und schrien ACAB, obwohl sie allerhöchstens einmal wegen Schwarzfahren mit den Bullen etwas zu tun hatten», sagt Haze. «Sollen sie doch ihre Busse bezahlen, was können die Cops dafür?»
Haze wusste also, dass die Weieren polizeilich abgeriegelt waren, aber natürlich kennt sie die Schleichwege. Es seien vielleicht 20 Leute da gewesen. Einer habe eine Flasche in Richtung eines Polizisten geworfen. Später sei dann mindestens noch eine Flasche einem Kastenwagen hinterhergeflogen. Nach einigen Personenkontrollen seien die Leute dann in die Stadt hinunter abgezogen.
«Ich habe erfahren, dass die Party in den Weieren steigen soll, aber weil ich wusste, dass die Polizei eh alles schon abgeriegelt hat, bin ich direkt zum Roten Platz, der am Anfang noch praktisch leer war», sagt Aliyah. Dann sei sie nochmals kurz nach Hause gegangen, um eine Musikbox zu holen und habe mit Kollegen einen Joint geraucht. Sie war erstaunt, wie voll der Rote Platz bei ihrer Rückkehr plötzlich war.
Auch Marc, Leo und Jovan waren mittlerweile da und standen bei ihren Grüppchen. Die Stimmung sei im Grossen und Ganzen überhaupt nicht aggressiv gewesen. Es habe kaum Pöbeleien gegeben, wie sonst üblich im Ausgang. Natürlich wurde gesoffen, gekifft, gekokst, nicht wenige waren auf MDMA. Allgemeine Ausgelassenheit. Es sei friedlich gewesen, beteuern alle.
«Ein paar Jüngere hatten einen grossen Latz, sie wollten zeigen, wie stark sie sind», erzählt Jovan. Vermutlich seien es auch die gewesen, die dann Flaschen gegen die Polizei geworfen haben, die mittlerweile mit Kastenwagen das ganze Gebiet eingekreist hatte. «Die Bullen haben gesagt, es passiere nichts, solange wir einfach hier hängen und ruhig bleiben», sagt Leo. «Dann haben ein paar doch angefangen, Flaschen zu werfen und sind weggerannt.» Er wollte noch nicht rennen und warf selber ein paar Flaschen.
Marc trudelte ziemlich zugedröhnt und «sehr gechillt» auf dem Roten Platz ein. Er hatte Alk, Koks und eine «schüche Überdosis» MDMA intus. Nachdem er sich schon auf dem Weg vom Osten der Stadt übergeben hatte, war er wieder fit und freute sich über all die Leute auf dem Roten Platz. «Machen wir uns einen schönen Abend», dachte er. Niemand sei auf Krawall gebürstet gewesen. Es seien vor allem jüngere Leute von ausserhalb gewesen, keine St.Galler, die dann eskaliert seien.
Der Kipppunkt
Als die Polizei mit Pfefferspray und Gummischrot zum Gegenangriff ansetzte, begann das grosse Rennen. Leo sagt, er habe aus 20 Metern Distanz beobachtet, wie zwei Polizisten ein fliehendes Mädchen, das wohl noch keine 15 Jahre alt gewesen sei, mit Pfeffer und Schlagstock zu Boden brachten. Sie habe nur noch geheult und geschrien: «Hört auf!» Er habe ein gewisses Verständnis, wenn die Polizei gegen kräftige Typen wie ihn so vorgingen, aber gegen ein Mädchen dieser Statur, von der sicher keine Gefahr ausgehe, hätte ein einzelner Beamter mehr als genügt. «Spätestens ab diesem Moment konnte ich die Bullen nicht mehr ernst nehmen. Gewalt erzeugt Gegengewalt.»
Jovan kennt die Randale, die folgte, nur von Videos. Er hat sich nach der Polizeiattacke am Roten Platz aus dem Staub gemacht. Haze ging zu ihrem Freund nach Hause. Auch Aliyah und Marc haben sich bald verzogen.
Leo, 18, zog mit sieben Jahren über die Grenze in die Schweiz. Bald geriet er auf die schiefe Bahn und landete im Heim. «Ich kenne kaum jemanden, der besser aus einem Heim kommt als er reingeht», sagt er. Sein Strafregister wuchs: Koks, Körperverletzung, unerlaubter Waffenbesitz, Raub, Einbrüche. Die überforderte Heimleitung schickte ihn bald ins Mittelland.
Er haute ab, versteckte sich zeitweise bei Kollegen im Keller, musste sein Essen zusammenklauen. Dann zog er nach St.Gallen zu seiner Mutter. Seinen Vater kennt er nicht. Die Mutter arbeitet im Service. Sie weiss, dass Leo an den Krawallen dabei war, weil er ihr nichts verheimlicht: «Lügen ist das Schlimmste im Leben», sagt er. Er lebt mittlerweile vom Sozialamt, hat keine Ausbildung und keine Zukunftswünsche. Leo lebt ausschliesslich im Hier und Jetzt.
Der einzige, der noch blieb, war Leo. Er sagt, im Klosterquartier seien dann nur noch ein paar Leute gewesen, er kannte niemanden. Aber die Stimmung sei auf ihn übergeschwappt. Randaliert hätten höchstens 30 oder 40, mehr nicht, der Rest seien Schaulustige gewesen. Im Rausch hätten einige die Scheiben des «Facincani», des Antiquitätenladens nebenan und der Drogerie auf dem Gallusplatz eingeschlagen – was ihnen später sogar den Hass der anderen Randalierer einbrockte. «Das war übertrieben und unnötig», sagt Leo.
Er selber habe nur ein paar Stühle über den Platz geworfen. «Kein grosser Schaden.» Er sei dann die Marktgasse hinunter zum Marktplatz, wo er den heranbrausenden Kastenwagen entging und Richtung Grabenhalle abzog. Damit fand auch sein Abend ein Ende.
Alle fünf sehen in jenem Moment, als die Polizei den Roten Platz stürmte, die Ursache für das, was an Ostern folgte. Die Polizei sei massiv überbordet und habe eine mehrheitlich friedliche Menge ohne Vorwarnung mit Tränengas und Gummischrot attackiert, statt diese mit gezielteren Massnahmen aufzulösen. Dass so viele Unbeteiligte – die ganz grosse Mehrheit hatte gegen die Polizei weder gepöbelt noch Flaschen geworfen – die polizeiliche Härte am eigenen Leib erfahren mussten, schürte die Wut in der Szene, sagen sie.
Zunehmend gestresste Gemüter
Einen Grossteil der Freizeit verbringen Marc, Haze und die anderen im Freien. Das war schon vor Corona so. Weil sie jung sind, haben sie ohnehin kaum irgendwo Zutritt, zumindest nicht offiziell. Einigen ist aufgefallen, dass die Stimmung auf der Strasse in den letzten Monaten immer angespannter wurde.
«Im Winter kannst du nur zu Hause rumsitzen, kannst nirgendwo sonst rein, um dich mit anderen Leuten zu treffen. Viele werden depressiv vom Alleinsein», sagt Marc. Die Leute auf der Strasse seien allgemein gestresster, das merke man, wenn man mit ihnen spreche. Konflikte untereinander eskalierten viel schneller als sonst. Und Marc ist überzeugt: In der Coronazeit habe der Drogenkonsum massiv zugenommen. Auch bei ihm selber. Die anderen bestätigen diese Einschätzung.
«Die Leute, die arbeiten oder in die Lehre gehen, sind bei der Arbeit mit so vielen Leuten in Kontakt. Und gleichzeitig heisst es, nach der Arbeit soll man sich nicht mit andern treffen, sondern nach Hause gehen. In der Berufsschule treffen und küssen sich die Leute, rauchen zusammen etc. Aber in der Freizeit soll das nicht möglich sein?», sagt Haze. Sie sei in einem Alter, in dem es wichtig sei, Dinge auszuprobieren, herauszufinden, was gut für einen ist und was nicht. Das sei den Jungen jetzt einfach weggenommen worden. Für einen 30-Jährigen sei es nicht mehr gleich schlimm, wenn einmal zwei oder drei Jahre nicht so viel möglich ist. Aber eigentlich will Haze nicht zu viel jammern, im Land, wo sie herkommt, sei alles noch viel übler.
Immer Ärger mit der Polizei
«Machst du draussen ein bisschen Musik, kommt gleich die Polizei und stellt sie ab. Sitzt du mit ein paar Freunden am Marktplatz, verteilt sie Bussen und schickt alle weg – weil: ‹zu viele Haushalte›», sagt Aliyah. «Sich daheim besaufen, wie es die Erwachsenen tun, das ist doch keine Lösung. Was soll man noch machen? Alles ist zu, du kannst nirgends tanzen, nirgends Shots trinken, nur zu Hause Shisha rauchen. Im ‹20 Minuten› stand, dass sich immer mehr Junge umbringen wollen. »
Die Leute seien frei und doch eingesperrt, die Stadt lebe und sei gleichzeitig tot, alle seien draussen, aber eigentlich sei nichts los, sagt Jovan. «D’Lüt sind langsam dure.» Es habe in den Coronamonaten definitiv mehr Schlägereien als sonst gegeben. Er sei selber in welche verwickelt gewesen, habe aber nie angefangen, wie er beteuert. «Ich bin ein friedlicher Mensch, das wissen alle. Aber wenn du mir auf Sack gehst, musst du dich nicht wundern, wenn du gefitzt wirst. Heute drehen auch Leute durch, die sonst nie schlägern.»
«In letzter Zeit ist es schlimmer geworden in SG», sagt auch Leo. «Von den Leuten her und auch von der Kriminalität her.» Drogen spielten dabei eine Rolle. «Es gibt schon auch echt krasse Leute hier, aber die meisten sind Blender, die ein bisschen influencen wollen, vestohsch?»
Die Stadtpolizei habe nicht eben positiv zur allgemeinen Stimmungslage beigetragen, sind sich die fünf einig. «Sie reden oft ohne Respekt mit uns», sagt Jovan. «Das sind Lutschers, ich kann sie nicht ernst nehmen. Wenn ein Polizist behauptet, er dürfe Frauen durchsuchen, dafür brauche es keine Polizistin, was soll das?» Wie du mir, so ich dir, ist seine Devise. Leo pflichtet bei: «Die Cops waren in letzter Zeit definitiv nicht freundlich zu den Leuten.» Sie seien oft grober vorgegangen, als nötig gewesen sei. «Sie filmen alles, und wenn wir mal was filmen, sollen wir löschen? Chum, läck mini Eier.»
Marc, 18, hat kürzlich seine Lehrstelle als Elektriker verloren. Wegen vieler Fehltage in der Schule (Husten kommt derzeit nicht gut an bei den Lehrern) sackten die Noten ab. Jetzt sucht er einen Betrieb, der ihn fertig ausbildet. Die Schweizer Eltern leben getrennt. Zum Vater hat er keinen Kontakt mehr. Marc wuchs bei der Mutter in der Zürcher Agglo auf. Vor einiger Zeit zogen sie zum neuen Partner der Mutter an den äussersten Rand eines Kaffs im unteren Toggenburg, was Marc gar nicht passte. Noch weiter weg von der Stadt und kaum Gelegenheiten auf neue Kontakte.
Mit zwei Kollegen hat er angefangen zu kiffen und zu koksen. In der Pandemie ist MDMA dazugekommen. Er sei immer öfter spät nach Hause gekommen, was bald zu Streit führte. Darum und weil ihm der tägliche Arbeitsweg zu mühsam wurde, ist Marc vor ein paar Monaten in eine WG nach St.Gallen gezogen. Ärger mit dem Gesetz gab es bisher nur wegen Kleinmengen Gras und verbotenen Messern. Er will die Lehre abschliessen, auf stabilem Fuss stehen, eine eigene Wohnung haben, vielleicht irgendwann eine Familie gründen.
Marc hat eine zunehmende Nervosität der Beamten beobachtet, der Griff an die Waffe erfolge heute rascher als auch schon. Vor Corona habe die Polizei öfter mal ein Auge zugedrückt, wenn Kleinstmengen Gras gefunden wurden. Das sagt auch Haze: «Früher haben sie den Grinder genommen und ausgeleert. Fertig. Solange du nicht auf einem Spielplatz gekifft hast, wars ok.»
Die Polizei in Zürich zum Beispiel sei grundsätzlich viel gechillter drauf als die in St.Gallen. Auch dies ein Konsens. Seit den Krawallen habe sich das nochmals verschärft, sagt Marc: «Als Jugendlicher gehörst du jetzt automatisch zu den Flaschenwerfern, einfach weil du jung bist. Alles wird über einen Kamm geschert.»
2. April: Die Revanche
Aliyah wollte eigentlich gar nicht raus am Karfreitagabend, aber zwei Freundinnen aus Zürich waren zu Besuch, darum sind sie dann doch wieder auf dem Roten Platz gelandet, wie schon in der Woche davor.
«Am Anfang wars noch halbwegs gechillt», erzählt sie, «aber plötzlich haben die Leute ACAB gerufen und sind Richtung Neumarkt gelaufen, dann sind Flaschen, Pyros und Baulatten geflogen.» Die Polizei habe dann «richtig Krieg gemacht», auch sie habe eine Ladung Tränengas abbekommen. Später wollte sie sich im Mac Donald’s beim Bahnhof einen Burger holen, doch die ganze Strasse war voller Leute. Aliyah dachte: «Muss das sein? Geht doch einfach nach Hause!»
Es musste sein, wenns nach den anderen geht: «Die Bullen hatten es nicht anders verdient», sagt Jovan. «Sie haben völlig überreagiert am Freitag davor. Wer so provoziert, muss sich nicht wundern, wenn es doppelt zurückkommt.» Marc sieht es genauso: «Am ersten Abend haben uns die Bullen den Mittelfinger gezeigt, am zweiten kam unsere Revanche. Normal, oder?»
Es ging am Karfreitag also von Anfang an darum, die Polizei zu provozieren. «Darum sind wir dieses Mal auch bewusst einigermassen nüchtern geblieben», erklärt Haze. «Und haben die Bierflaschen gesammelt, um sie nachher zu werfen.» Anders Leo und Jovan. Einer war «ein bisschen am Skifahren» und der andere sagt: «Egal, wo man hinschaute, man fand etwas zum Konsumieren.»
Es gab mehrere Aufrufe auf Snapchat für die Eskalation am Karfreitag. Einer davon kam von Leo. «Ich habe aber explizit geschrieben, dass diesmal kein Privateigentum kaputtgehen soll», sagt er. «Die Beizer und Ladenbesitzer sind schliesslich genau gleich arm dran wie wir. Es sollte nur gegen die Bullen gehen. Weil wir einfach die Schnauze voll hatten von der ganzen Gewalt.»
Jovan sieht das ähnlich: «Die Scheiben der Jugendanwaltschaft einwerfen oder ein Polizeiauto anzünden, das kann man machen, aber Läden und Restaurants zerstören? Goht gar nöd, Bro! Diese Leute wollen sich auch nur etwas aufbauen und Geld verdienen.»
Jovan, 21, lebt seit seiner Geburt im St.Galler Lachenquartier, seiner «Hood». In Ausnahmefällen versteht er sich auch mit Leuten aus St.Fiden. Er beschreibt sich selber als lustigen, unterhaltsamen Typ, der aufgrund seines Migrationshintergrunds (Serbien) nicht normal sprechen kann, sondern nur schreien. Seine Freunde ticken ebenso. Seinen «geraden Weg» fand er als Automech in einer Garage auf dem Land. «Meh Integration findsch nöd», sagt er.
Drogenerfahrung? «Kiffen sicher, bizeli Skifahren, bizeli Speed, Alkohol, MDMA. Das wärs eigentlich.» Dass man mit dem Gesetz in Konflikt gerät, könne halt passieren, wenn man so frech sei wie er. Er behandelt Leute, wie sie ihn behandeln, egal ob uniformiert oder nicht: «Du bist nicht meine Mutter, du bist nicht Gott, du hast mir nichts zu sagen.» Der Vater? «Totalschaden, nicht der Rede wert.» Nur die Mutter ist da, sie weiss nicht, dass er an den Krawallen dabei war. In 20 Jahren will Jovan in Rente gehen, mit einem fetten Haus «dunnä» und einem importierten Benz mit MAE Chromfelgen, 22 Zoll, frischpoliert.
Leo, Marc, Haze und Jovan waren an vorderster Front dabei an diesem Abend, haben auch Molotows geworfen. Davon seien, entgegen der Medienberichte, mehrere im Umlauf gewesen, sagen sie, sogar welche mit Zeitsteuerung. Und dass sie Hilfe von Älteren hatten bei der Vorbereitung. Dass auch viele Hooligans im Spiel gewesen seien, wie die NZZ behauptet, bezweifeln sie. «Aus SG höchstens ein paar wenige. Aber die Leute kamen ja von überall her, aus Zürich, Bern, Basel, sogar aus Genf. Gut möglich, dass es vereinzelt welche darunter hatte.»
Die Bilanz der Vier: gereizte Augen und Atemwege, diverse Schrammen, etliche blaue Flecken vom Gummischrot und eine «übertrieben grobe» Verhaftung «samt Fäusten und Beleidigungen seitens der Bullen». Und ein wenig Stolz.
«Schono geil xsi», sagt Marc. «Endlich wiedermal was los. Wir hatten einen guten Vibe – auch wenn ich nicht alles unterstützen kann, was passiert ist. Die zertrümmerte Bushüslischeibe zum Beispiel. Oder wenn Leute Desinfektionsständer herumwerfen. Flaschen werfen oder mit Baustellenmaterial eine Verteidigungsmauer bauen ist okay, da geht ja nicht viel kaputt.»
«Wer hat euch in den Kopf geschissen?!»
Marc findet, dass das Vorgehen der Polizei «akzeptabel gewesen ist» am Karfreitag – «irgendwie mussten sie sich ja wehren.» Er betont mehrmals, dass er niemanden verletzen wollte.
«Wir wollten den Cops nur einen Schreck einjagen», nickt Haze. «Gezielte Provokation: Das war von Anfang an der Plan. Wir schiessen – sie schiessen. Unsere Bierflaschen waren ja keine ernsthafte Gefahr für die Robocops, die mussten nur den Schild heben.» Auch Leo schwört: «Ich habe auf die Strasse gezielt, nicht auf Menschen. Zudem ist mein Molli gar nicht richtig explodiert.»
Aliyah, die auch an diesem Abend nur zugesehen hat, kann mit solchen Beschwichtigungen nichts anfangen. Velos anzünden, Pyros und Molotows werfen, das sei «einfach saudumm», sagt sie, «obwohl ich die Polizei selber auch hasse». Sie kann den Einsatz nachvollziehen. Wenn sie nicht eingeschritten wäre, hätte das nichts geändert, ist sie überzeugt, «die Leute hätten so lange weiter provoziert, bis es nicht mehr anders gegangen wäre».
Sie befürchtet, dass so etwas wieder passiert, vielleicht nicht in St.Gallen, aber anderswo. Am liebsten würde sie selber einen Aufruf auf Snapchat machen und fragen: «Wer hat euch in den Kopf geschissen?! Wir sind in der Schweiz, in einem der sichersten Länder der Welt und ihr liefert euch Strassenschlachten mit der Polizei? Ihr seid eine Blamage für unser Land und unsere Stadt. Party okay, hängen, saufen, dies das, aber hört auf, zu eskalieren.»
Aliyah, 19, ist im St.Galler Neudorf aufgewachsen. Ihre Eltern stammen vom Balkan, das Verhältnis zur Mutter ist schlecht, den Vater kennt sie kaum. «Die Schulzeit war traumatisch», sagt sie. «Ich habe oft geschwänzt, wurde gemobbt, hatte immer das Gefühl, dass niemand mich gern hat. Irgendwann hat jemand die Kesb eingeschaltet.» Es folgten Aufenthalte in Kliniken, Jugendeinrichtungen, Internaten. Mehrere Monate war sie «auf Kurve», ist da und dort untergekommen. Absturz, Strassenlife. MDMA, LSD, Koks, Ketamin, das ganze Programm – bis sie sich freiwillig gestellt hat.
Heute ist Aliyah clean, «nur noch Zigis und Alkohol». Und sie hat dank einer befreundeten Familie, die sie vorübergehend aufgenommen hat, «wieder Sinn gefunden und erkannt, dass es auch gute Menschen gibt». Das nächste Ziel: eine Lehre machen. «Egal was, Hauptsache Abschluss. Damit ich endlich ein eigenes Leben habe.»
Obwohl der Hass gegen die Polizei gross ist, sind sich alle einig: «Es gibt auch okaye Leute bei der Polizei, zum Beispiel jene, die Omas über die Strasse helfen und Parkbussen verteilen.» Aber es gebe auch viele, die rassistisch sind. Jovan erzählt: «Ich bin mit Leuten zur Schule gegangen, die von Ausländern aufs Dach bekamen und dann gesagt haben: ‹Ich werde Polizist, dann könnt ihr mir nichts mehr.› Einer von denen ist wirklich Polizist geworden. Das sind dann genau jene, die radikal an die Personenkontrollen herangehen. Wenn so einer von einem Böller getroffen wird, empfinde ich kein Mitleid.»
Auch zum Vorwurf, sie seien «hirnlose Chaoten», die von den Eltern alles geschoppt bekommen, wie in den Kommentarspalten öfters zu lesen war, findet Jovan deutliche Worte: «Kommt zu uns ins Lachenquartier und traut euch, jemandem dort zu sagen, dass er das Geld in den Arsch geschoben bekommt, und ich garantiere euch, ihr werdet so lange an den Füssen aus dem Fenster baumeln, bis euer Kopf rot ist wie eine Tomate. Wir sind keine Zürcher Rich Kids, die mit den Autos ihrer Eltern die Langstrasse rauf und runter fahren. Wir sind alles andere als verwöhnt!»
Die Impfstrategie: «fürn Arsch»
Hässig sind sie alle, aber nicht nur auf die Polizei, auch auf Corona. Dass ihr Handeln an Ostern politisch war, würden sie so nicht sagen, aber es hat definitiv mit Politik zu tun. Er mache sich schon zunehmend politische Gedanken, sagt Marc, auf dessen Handy ein FCK SVP-Sticker klebt. «Für mich ging es auch gegen Corona, gegen die Obergrenze. Man kann nicht einfach alles verbieten und erwarten, dass alle folgen. Wir haben uns schon so lange zurückgenommen und immer verlängern sie noch ein bisschen und noch ein bisschen. Und ständig sehe ich alte Leute am Bahnhof, die in die Ferien oder auf einen Ausflug gehen. So kann es nicht weitergehen. Warum wird nicht schneller geimpft?»
Die Impfstrategie sei «fürn Arsch», schimpft Haze. Sie habe im Altersheim gearbeitet, die meisten dort könne man nicht mehr heilen, «man kann nur noch die Lebensqualität fördern». «Ich verstehe nicht, warum die zuerst geimpft werden. Mir ist klar, dass diese Leute das Land aufgebaut und ihr ganzes Leben gearbeitet haben, aber es wäre wichtiger, dass die Jungen jetzt geimpft werden, weil wir das Land weiter aufbauen müssen.»
«Wenn Corona so gefährlich ist, warum sind dann die Masken nicht kostenlos?», fragt Leo. «Es geht doch um unsere Gesundheit. Warum helfen sie uns nicht?» Und Jovan findet: «Wenn man immer nur auf die Alten hört und alles auf ihre Interessen abstimmt, sieht man, was man davon hat: 500’000 Franken Kosten für einen Polizeieinsatz, der aus Steuergeldern bezahlt wird.»
Dass Massnahmengegner und Coronaleugnerinnen jetzt auf der jugendlichen Frustwelle mitzusurfen versuchen, wundert die fünf gar nicht. «Logisch wollen sie unseren Ärger für sich nutzen», sagen Marc und Haze lachend, «aber diese Spasten nimmt eh niemand ernst. Wir bleiben unter uns, die können nicht einfach auf den Zug aufspringen. Die Leute in unserem Umfeld sind keine Verschwörungstheoretiker, die nehmen Corona ernst.»
Corona spiele zwar eine Rolle, aber die Leute hätten ganz verschiedene Gründe, erklärt Haze. «Ich und mein Freundeskreis eskalieren, weil wir einen generellen Hass auf die Staatsgewalt haben, andere weil sie das Gefühl haben, sie seien krass und wieder andere, weil sie einfach ein bisschen dabei sein wollen.» Die Einschätzungen dazu gehen auseinander. «30 bis 40 Prozent wollten einfach wiedermal ein bisschen Action», schätzt Marc. Haze widerspricht: «80 Prozent.»
Deutschrap, dies das
Klar ist: Der Männeranteil war relativ hoch, vor allem am Karfreitag. Das Video der Liegestütze im Tränengas, untermalt vom Rapper Haftbefehl, hat schnell den Weg raus aus TikTok und rein in die Köpfe besorgter Erwachsener gefunden. Missverstandene Kunstperformance oder Sinnbild toxischer Männlichkeit? Und was hat Deutschrap mit all dem zu tun?
Dealen, Husteln, Snitches und Bitches – davon handeln viele Texte von Hafti, 187 und anderen. «Ich höre auch gern Deutschrap», sagt Aliyah, «aber ich kann damit umgehen. Viele Rapper übernehmen keine Verantwortung, denken nicht daran, dass auch Achtjährige ihre Texte hören.» Rap sei früher politisch gewesen, weiss Haze, man habe Dinge angesprochen, die in der Gesellschaft falsch laufen. «Heute geht es oft nur noch um Autos, Frauen, Drogen und Geld. Das kann ich nicht ernst nehmen – ausser von Leuten, die tatsächlich eine harte Zeit durchlebt haben und jetzt darüber rappen.»
Das Problem seien nicht die Texte, sagen Haze und die anderen, sondern dass sie kaum etwas mit der Lebensrealität der meisten Jugendlichen in der Schweiz zu tun haben. «14-jährige Jungs wollen Dealer werden und rufen ACAB, weil sie das bei den Rappern gehört haben, dabei haben sie ein gutes Leben und noch nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt.» Dealen sei zum Trend geworden, dabei hätten das in der Schweiz nur die wenigsten nötig. «Dein Vater hat ein Nettoeinkommen von 8000 Franken, deine Mutter ist fucking Anwältin und du vertickst trotzdem Drogen?», fragt Haze und verwirft demonstrativ die Hände. «Was soll das?!»
Was das soll, fragten sich Haze, Marc, Jovan und Leo auch am Sonntag nach dem Krawall, als sie von der Polizei für 30 Tage weggewiesen wurden. Haze kam grad von ihrem Freund in Zürich und wollte nach Hause, ein Bekannter von ihr lief mit einem Einkaufssack aus dem Coop beim Bahnhof und kassierte ebenfalls eine Wegweisung. «Was Stadtverbot? Soll er Fleisch und Gemüse auf die Cops werfen? Figged eu!», so die einhellige Meinung. «Ihr seid einfach völlig überfordert, darum schmeisst ihr jetzt alle Jugendlichen in einen Topf und verteilt ohne Grund Wegweisungen.»
«Was passiert ist, ist passiert», sagt Marc. «Im Endeffekt wollten wir nur ein Zeichen setzen. Auch wenn die Aussenwelt nicht versteht oder nicht akzeptiert, was in unseren Köpfen vorgeht.» Das Verhalten der Polizei mache die Situation nur noch schlimmer, der Ärger staue sich weiter auf «und die Cops zeigen den Jungen so richtig schön den Mittelfinger, indem sie alle wegweisen. Damit machen sie auch jene wütend, die vorher noch nicht wütend waren.»
Gewisse Punkte in den Biografien von Haze, Marc, Jovan, Leo und Aliyah sind leicht abgeändert, damit keine Rückschlüsse gezogen werden können.