«Literaturhäuser treffen den Nerv der Zeit»

Ist die Villa Wiesental der richtige Ort für ein erhofftes künftiges Literaturhaus in St.Gallen? Und gibt es nicht schon genug literarische Angebote? Fragen an Sandra Meier, Kinok-Leiterin und Mit-Initiantin der Literaturhaus-Idee.
Von  Peter Surber

Sandra Meier, warum braucht die Literatur in St.Gallen ein Haus?

Sandra Meier: Örtlichkeiten sind wichtig – wir machen diese Erfahrung mit dem Kinok und mit der Lokremise jeden Tag. Kultur braucht Orte, wo man gern zusammenkommt, wo Menschen ins Gespräch kommen. In einer Zeit, wo Öffentlichkeit zunehmend verloren geht, sind Orte der Gastlichkeit und des sozialen Lebens umso wichtiger. Kulturräume sind das öffentliche Wohnzimmer einer Stadt.

Wäre es nicht zeitgemässer, statt in festen Häusern Kultur in nomadischen, auch provisorischen Formen zu betreiben?

Das eine schliesst das andre nicht aus. Gerade das Kinok hat eine lange nomadische Geschichte. Wir haben die halbe Stadt bespielt, sind immer wieder hinausgegangen. Es braucht beides. Die Sofalesungen, wie sie auch in der Ostschweiz seit neuem stattfinden, sind ein gutes Beispiel für neue Formate, die es immer wieder braucht. Aber die Literatur hat in der Stadt keinen Ort. Und dabei ist Sprache das wichtigste Kommunikationsmittel überhaupt. Sprache ist elementar, aber auch fragil, verletzlich.

Es gibt in der Stadt und in der Region ein vielfältiges Angebot an Literaturvermittlung. Und es wird eine neue Bibliothek geben. Sind das nicht Orte genug?

Dass heute schon so viel passiert, ist toll. Uns geht es nicht um Konkurrenz. Doch eine Bibliothek muss als Bildungsinstitution sehr viele Bedürfnisse erfüllen müssen. Ein Literaturhaus ist wendiger und nicht nur ein Veranstaltungsort, sondern auch ein Ort der Produktion und Diskussion. Ein solcher fehlt in der Buchstadt St.Gallen.

Dennoch: Die künftige Bibliothek hat zum Teil ähnliche Absichten wie das Literaturhaus. Sie sieht sich auch als Begegnungs- und Arbeitsstätte.

Die Bibliothek braucht es unbedingt. Aber dass die Planung solange dauert, ist ein kümmerliches Zeichen für Stadt und Kanton. Und deshalb jetzt zehn Jahre zu warten, wäre falsch. Literaturhäuser sind aktuell, sie treffen den Nerv der Zeit, sie haben ihr eigenes Profil, so wie auch andere Veranstalter oder Buchhandlungen ihr eigenes Profil haben. Man ergänzt und man stärkt sich gegenseitig.

Sandra Meier, 1963, Leiterin des Kinok St.Gallen und im Vorstand von «Literaturhaus und Bibliothek Wyborada». Liebster Lese-Ort: «Mein Sofa. Aber ich habe immer etwas zum Lesen dabei und lese überall. Ich werde ganz melancholisch, wenn ich keine gute Lektüre habe. Und ich kann Frauen mit kleinen Handtaschen nicht verstehen. Lesen diese nur Reclambüchlein?»

Im Gespräch ist auch ein Werkhaus für Tanz, Theater und Musik. Das neue Kulturkonzept der Stadt nimmt diese Idee auf. Ist das eine Konkurrenz für die Literaturhaus-Projekt?

Das Werkhaus ist als Idee und als Forderung da, dagegen ist gar nichts einzuwenden, aber ich weiss nicht, wie konkret es ist, im Gegensatz zu unserem Projekt. Hinzu kommt: St.Gallen hat ein tausendjähriges Erbe als Buchstadt und ist zu Recht stolz darauf. Aber dazu würde gehören, auch in die Zukunft zu investieren. Mit einem Literaturhaus kann sich die Stadt in der Region und darüber hinaus profilieren, so wie das Literaturhäuser anderswo zeigen, in Basel, Zürich, Lenzburg, aber auch Salzburg, München, Köln… Es soll eine Institution sein, die Gewicht hat.

Und dafür ist die Villa Wiesental der ideale Ort?

Die Villa ist ideal für intimere Formate, wie sie zur Literatur passen, aber auch als Arbeitsort und Treffpunkt mitten im Kulturviertel um Lokremise, Fachhochschule, Lagerhäuser, Militärkantine. Wir könnten uns eine Nutzung von Erdgeschoss und Untergeschoss vorstellen. Eine zumindest teilweise öffentliche Nutzung der Villa wäre politisch zwingend, nachdem sich Tausende von Personen für ihre Rettung eingesetzt haben. Und wir sind überzeugt, dass eine solche Nutzung auch finanzierbar wäre. Aber bei der Kultur gilt immer alles gleich als «zu teuer». Dabei vergisst man, wie viel Wertschöpfung Kultur bringt. Und wieviel Resonanz. Nicht das Tiefbauamt prägt das Image einer Stadt, sondern die Kultur.

Die Villa Wiesental, Ansicht vom Garten aus.

Wie geht es mit dem Literaturhaus jetzt weiter?

Das Auftaktprogramm von Literaturhaus und Bibliothek Wyborada (mehr dazu hier) startet demnächst, und ein Gespräch mit den anderen Literaturveranstaltern findet im Oktober statt. Parallel dazu müssen wir politische Überzeugungsarbeit leisten. Weiter wollen wir Autorinnen und Autoren ins Boot holen. Ein Literaturhaus ist die beste Autorenförderung. Aber das Projekt richtet sich an alle Menschen, die sich mit Wort und Text beschäftigen. Natürlich ist es schön, ein Buch allein zu lesen – aber noch schöner ist es, sich darüber auszutauschen.

Noch verschlossen: das Tor zum Garten der Villa Wiesental.

Dieser Beitrag erschien im Oktoberheft von Saiten.