, 28. Juni 2020
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Literatur auf dem Land: Geht!

Stilles Jubiläum: Das Bodman-Literaturhaus in Gottlieben ist 20 Jahre alt. Bei der Gründung war keineswegs klar, ob ein solches Haus abseits der Zentren funktionieren könnte. Ein Blick zurück. von Jochen Kelter

Zurzeit geschlossen: Das galt bis eben auch für das Literaturhaus Thurgau, wie es seit kurzem (etwas hochtrabend für einen dezentralisierten Kanton) heisst. Die Jahresversammlung zum Jubiläum am 25. April war auf unbestimmte Zeit verschoben worden. Eine neu aufgelegte Broschüre zum 20-jährigen Bestehen mit allen wissenswerten Zahlen und Fakten ist allerdings im Mai erschienen.

Das Bodmanhaus in Gottlieben, Sitz des Literaturhauses Thurgau. (Bild: Brigitta Hochuli)

Die geplanten Veranstaltungen des ersten Halbjahres wurden aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt – mit einer Ausnahme: Am 2. Juli stellen Carel van Schaik und Kai Michel ihr Tagebuch der Menschheit vor, im Untertitel: «Was die Bibel über unsere Evolution verrät». Es ist nach drei Jahren der Abschiedsabend für Marianne Sax als Programmleiterin in Gottlieben. Ihr Nachfolger Gallus Frei-Tomic startet am 22. August mit einem Sommerfest mit Puschkin, am 27. August liest Andreas Neeser, dann geht es Schlag auf Schlag bis Oktober. Mehr zu den Plänen des neuen Leiters ist auf thurgaukultur.ch nachzulesen.

Tagebuch der Menschheit: 2. Juli 20 Uhr, Literaturhaus Thurgau

Nächste Lesungen am 22. und 27. August. Das gesamte Programm für die zweite Jahreshälfte wird Anfang Juli publiziert.

bodmanhaus.ch

Als das Bodman-Haus im Mai 2000 feierlich seinen Betrieb aufnahm, wobei die Autorinnen und Autoren eher den dezenten Hintergrund der Gäste im Festzelt bildeten, von denen ich seither kaum einen wiedergesehen habe, war das durchaus ein Wagnis, dessen sich die wenigsten bewusst waren: ein Literaturhaus in der ländlichen und kleinsten Gemeinde des Kantons, die eher für Hotellerie am Seerhein und Hochzeitstourismus bekannt war als für Kultur. Würden die Einwohner und Gäste sich an seltsame, mitunter recht trinkfeste Leute wie Autoren gewöhnen? Die beiden anderen Literaturhäuser, die etwa zeitgleich mit dem unseren als erste Schweizer Literaturhäuser ihre Türen öffneten, standen immerhin in Zürich und Basel.

Kulturelle Aufholjagd

Die Gründung des Bodmanhauses war eine Art Abschluss einer kulturellen Aufholjagd, die aus dem kulturellen «Holzboden» Thurgau im Zeitraum von etwa 15 Jahren eine fast schon blühende, mitunter wuchernde Kulturlandschaft machte: von den Ittinger Pfingstkonzerten über «KulT(h)urgau» und Ittinger Literaturtage, die Gründung der vom Staat unabhängigen Kulturstiftung des Kantons, in deren Stiftungsrat neben von der Regierung entsandten Vertretern auch Kulturschaffende und Kulturvermittlerinnen Einsitz nehmen, das Jazzfestival «Generations» in Frauenfeld, die Vergabe von Kompositionsaufträgen, die Förderung von bildender Kunst und Fotografie bis hin zu einem eigenen Literaturhaus.

In der Probephase des Hauses übernahm die zehn Jahre zuvor gegründete Kulturstiftung des Kantons Thurgau die Betriebskosten, eine vergleichsweise bescheidene Gesamtsumme von 40`000 Franken jährlich. Gleichwohl blieb die Frage, ob das gut gehen konnte: Literatur auf dem Land? Es ist gut gegangen. Die Besucherzahlen blieben über all die Jahre zumeist überschaubar, aber mit der Zeit entwickelte sich neben Gästen, die sich für einen ganz bestimmten Autor, eine Autorin interessierten, ein Stammpublikum von beidseits der nahen Grenze. Und das Haus hat seither in seiner kleinen Stipendiatenwohnung über 30 Autoreninnen und Autoren für meist zweimonatige Aufenthalte beherbergt. Nach der Anlaufphase hat der Kanton die laufenden Kosten längst in sein ordentliches Kulturbudget übernommen.

Platz auch für das Sperrige

Die verschiedenen Programmleiter oder Teams, es waren bisher insgesamt acht Personen, haben natürlich unterschiedliche Schwerpunkte in ihrer Programmierung gesetzt, inhaltlich und durch die von ihnen eingeladenen Gäste. Mitunter ist das Haus sogar «fremdgegangen» – in die Aula der Kantonsschule Kreuzlingen, die Landwirtschaftsschule Arenenberg oder den Klosterhof St.Gallen. Der gesamte Literaturbetrieb und Buchmarkt haben sich in den vergangenen 20 Jahren noch einmal einschneidend verändert. Es werden bei etwa gleichbleibender Leserschaft immer mehr Bücher verlegt, die Qualität der Buchproduktion, der Literaturkritik und der Kulturberichterstattung nimmt allgemeinmerklich ab. Marketing und Veranstalter bestimmen die Inhalte, für Lyrik etwa ist in den Verlagsprogrammen kaum noch Platz. Vaudeville, Kunsthandwerk, gut Verdauliches werden als Literatur verkauft. Ein Kritiker schrieb über einen Roman von Daniel Kehlmann, er lese sich «wie von selbst».

Ein Literaturhaus wie das unsere sollte keine Literatur befördern, die sich wie von selbst liest. Dafür brauchte es kein Literaturhaus. Dieses sollte vielmehr nicht unbesehen Trends und Trendsettern folgen und sich dem Druck von Verlagen und Buchhandel entziehen. Statt Unterhaltung und Lebensdekoration sollte es qualitätvolle Literatur zu befördern helfen, eine Literatur, die mit Sprache arbeitet, also unter die Oberfläche der Erscheinungen taucht, und so Geschichte und Geschichten wie Luft zum Atmen in unser Bewusstsein befördert.

Dieser Beitrag erschien im Sommerheft von Saiten. Jochen Kelter war von 2000 bis 2004 erster Programmleiter des Bodman-Literaturhauses.

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