Lernen vom Wiesli
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Im Herbst 1974 fahren die Bagger auf. Wegen Pilzbefall werden zwei Kutscherhäuschen abgerissen. Bald haben die Bauarbeiter den gröbsten Schutt abgetragen, dann ist es still. Fortan liegt die Wiese hinter der Verkehrsschule brach. Während das Gras vor sich hin wächst, dient der Ort Hunden als Abort. Ende der 1970er-Jahre ist die Parzelle verwaist. Nebst den Hunden taucht einzig der Abwart regelmässig auf. Täglich mäht er zwei Quadratmeter Gras: das Futter für die Versuchstiere in einem Labor. Sonst interessiert die Wiese kaum jemanden.
Von ihrer Wohnung aus sieht Irène direkt auf das unscheinbare Fleckchen im St.Galler Museumsquartier. Eigentlich läge es nahe, sich hier mit anderen Müttern aus dem Quartier zu treffen. Als sie den Hauswart eines Tages vor der Türe fragt, ob sie die Wiese als Treffpunkt nutzen dürfte, ist die Reaktion wider Erwarten positiv. Der Abwart freut sich, die Mäharbeit nicht mehr selbst erledigen zu müssen. Das Wiesli ist geboren.
Aneignung im Kleinen
Um 1979 beginnt eine Hand voll Anwohner:innen, die Parzelle zu nutzen. Sie treffen sich mit Kind und Kegel. Anfangs sind die Eingriffe noch überschaubar und zögerlich, beschränken sich auf regelmässiges Mähen und dass Spannen eines Drahts, der die Wiese eingrenzt und vom Verkehr abschirmt. Noch kann man mit dem Auto im Quartier überall durchfahren. Tempo 30 ist ein Wunschtraum.
Gemeinsam bestreitet man den Unterhalt der Wiese. Einer der ersten, der anpackt, ist Cyril Scherrer. Mit Elan beginnt er den Grünraum zu gestalten, zunächst sanft, bald aber verwandeln er und anderen die Parzelle grundlegend: «Nächtlicherweise und ganz leise begann ich zu graben, ohne Erlaubnis, vor rund [40] Jahren am Wiesenrand zur Hadwigstrasse, um Büsche und Blumen zu pflanzen. Als am anderen Tag ein Lehrer der damaligen Verkehrsschule vorbei spazierte und die bescheidene Anlage lobte, getraute ich mich auch tagsüber umzustechen und die neu geschaffenen Beete mit selber gezogenen Blumen zu bestücken.» (Cyril Scherrer, «Quartierbrief» 2010, S.10)
Heute, mehr als 40 Jahre später, sind die Setzlinge, die Scherrer vergrub, stattliche Bäume. Der anfänglich subversive Eingriff ist zum festen Bestandteil der Umgebung geworden, ist buchstäblich ausgewachsen. Doch der Schein des Etablierten trügt. Zwischen den Bäumen ragen Visiere in die Höhe. Bald soll hier gebaut werden. Dagegen wehrt sich die Nachbarschaft. Nachdem mehrere Versuche, eine Lösung zu finden, gescheitert waren (unter anderem auch ein Kaufangebot an die Eigentümerin St.Galler Pensionskasse), greift die IG Museumsquartier zum letzten Mittel: Mit einer Initiative will sie das Wiesli retten. Es soll zur Grünzone werden. Damit droht das Grundstück seinen ökonomischen Wert zu verlieren.
Lernen statt gewinnen
Szenenwechsel: Im Waaghaus debattiert das Stadtparlament über das Wiesli. Die Meinungen sind gemacht. Der erste Parlamentarier ergreift das Wort. Er warnt vor der Gefahr einer drohenden Enteignung. In der Redaktionssitzung eines überregionalen Mediums ist der Ton ähnlich abwehrend: «Das sind doch die reichen Säcke, die im Schlössli wohnen.» Vom Fraktionspräsidenten der Grünen bis zum Chefredaktor des «Tagblatts» sind sich scheinbar alle einig. Wie ein roter Faden zieht sich die Warnung vor gefährdetem Privateigentum und die Entrüstung über die vermeintliche Privilegiertheit der Quartierbewohner:innen durch Leserbriefe und öffentliche Stellungnahmen. Droht hier unsere Rechtsordnung zusammenzubrechen? Ist vielleicht der soziale Frieden in Gefahr?
Niklaus Reichle, 1986, ist Soziologe und Kulturschaffender. Er forscht und lehrt an der Universität St.Gallen und der Fachhochschule Ost. Mit seiner Familie lebt er seit Sommer 2018 im Museumsquartier.
Mir wird beim Lesen mulmig. Auch auf der Befürworter:innenseite wird grosses Geschütz aufgefahren: Es gehe um jeden Baum, das Klima und Grünräume in der Stadt. Ich bin ratlos. Der politische Schlagabtausch beschränkt sich auf die Umstände der Wieslinutzung und abstrakte Themen, versagt jedoch darin, ernsthaft zu ergründen, was sich dort tagtäglich abspielt. Letztlich hat sich damit die Debatte um das Wiesli auf die Frage verengt, ob die Besitzstandswahrung legitim sei oder nicht. Dabei geht so vieles vergessen, was das Wiesli eigentlich ausmacht.
Mit diesem Text möchte ich Aspekte betrachten, die im Kontext einer politischen Logik, in der lediglich gewinnen oder verlieren zählt, leicht aus dem Blickfeld geraten. Statt mit «Rettet das Wiesli» den Fokus auf das Museumsquartier zu legen, sollten wir eigentlich im Sinne von «Lernen vom Wiesli» den Blick öffnen und in die Stadt hinaus richten.
Wollen wir für die künftige Entwicklung der Stadt profitieren, so ist es zunächst unerheblich, ob dieser Ort erhalten bleibt oder einem Neubau weicht. Vielmehr stellt sich die Frage, was wir von diesem in St.Gallen einmaligen Beispiel innerstädtischer Aneignung eines funktionsoffenen Raums lernen können. Ich meine: ganz viel.
Das Wiesli birgt Erkenntnispotenzial rund um die Frage nach dem Umgang mit Raum in städtischen Gebieten, es zeugt von der Relevanz wie auch von den Möglichkeiten, die Gemeingüter in urbanen Nachbarschaften spielen können, und es ist letztlich ein Paradebeispiel der Gestaltung und Pflege der eigenen (räumlichen wie auch sozialen) Umgebung durch die Bewohner:innen eines Quartiers (und damit auch von Teilhabe am gemeinsamen Projekt Stadt).
Die Frage ist, ob man die bemerkenswerten Vorgänge, die sich über den Zeitraum von sage und schreibe 43 Jahren ergeben haben, wirklich verstehen möchte. Ob man gewillt ist, aus dieser Geschichte Schlüsse für den künftigen gesellschaftlichen Umgang mit Raum zu ziehen, oder ob man sie doch lieber mit der Realisierung eines Bauprojekts ein für alle Mal ad acta legen möchte. Die bevorstehende Abstimmung bietet die Gelegenheit, eine solche Debatte zu führen.
Ein soziologischer Blick auf das Wiesli
Als ich mit meiner Familie vor vier Jahren frisch ins Museumsquartier gezogen bin, ging ich täglich an den Bäumen vorbei, die Cyril Scherrer vor 40 Jahren gesetzt hatte, ohne mir dabei etwas zu denken. Es waren ganz einfach Bäume. Ich hatte zwar schon vom Wiesli gehört, konnte mir aber wenig darunter vorstellen. Überhaupt war mir suspekt, dass so ein kleiner Flecken grün neben dem Stadtpark eine derart zentrale Rolle für eine Nachbarschaft haben soll. Aber ich war ja auch neu hier und eben erst Vater geworden. Noch hatte ich wenig konkrete Vorstellungen, was dies alles mit sich bringen würde. Heute staune ich vor allem über das Wiesli. Als Anwohner und Mitnutzer, und nicht zuletzt aus beruflichem Interesse.
Als Soziologe beschäftige ich mich mit gesellschaftlichem Alltag, hin und wieder auch mit den (räumlich) naheliegenden Dingen unseres Zusammenlebens. Im eigenen Hinterhof zu forschen, hat in der qualitativen Soziologie Tradition. Das Wiesli ist nun aber alles andere als ein gewöhnlicher Hinterhof. Beim Vorbeigehen mag das zunächst kaum auffallen. Erblickt man den Kletterturm und die Schaukel, so hält man es vielleicht für einen Spielplatz. Sieht man die gedeckten Tische, so mag man sich an einem Begegnungsort wähnen.
Das wirklich Wertvolle am Wiesli erschliesst sich jedoch nicht anhand der sichtbaren Infrastruktur oder der hochgewachsenen Bäume, sondern vor allem anhand dreier unsichtbarer Aspekte. Erstens: dem sozialen Netz, das hier in den späten 1970er-Jahren seinen Anfang nahm und sich seither – mal dichter, mal loser, aber vor allem beständig – über das Quartier hinweg zieht. Zweitens: den Potenzialen, welche die informelle Aneignung von Raum und die selbstorganisierte Bereitstellung von Gemeingütern für die Entwicklung eines Quartiers, das Verhältnis der Bewohner:innen untereinander sowie den Wandel des eigenen Selbstverständnisses der hier wohnenden Menschen bietet. Und drittens: der Art und Weise, wie hier Kinder in den öffentlichen Raum sozialisiert werden. Wie sie lernen, sich als selbständige Menschen in städtischer Umgebung zu bewegen.
Ein funktionsoffener Raum in der verplanten Stadt
Das Wiesli fällt in einer Gegenwart, in der Räume nach festen Zuschreibungen geplant und organisiert werden, durch die etablierten Kategorien. Es ist weder Spielplatz noch Park, noch Jugendtreff, noch Naturraum oder Gemeinschaftszentrum. Und doch trägt es all diese Dinge in sich. Es kennzeichnet sich durch die Vermengung verschiedener Nutzungen und einer Überlagerung von Nutzer:innengruppen, die für die meisten Top-down geplanten Räume untypisch sind.
Dies zeigt sich am offenkundigsten, wenn man das Alltagsgeschehen auf dem Wiesli betrachtet: Während drei Teenager aus dem Quartier gelangweilt rund um die Schaukel hängen, erklimmt eine Gruppe Kleinkinder ohne erwachsene Begleitung den Spielturm, um dort oben ihr Piratenschiff in Betrieb zu nehmen. Unter dem Spielturm döst derweilen Cyril Scherrer (mittlerweile ist der Urban Gardener 95 Jahre alt).
All dies geschieht synchron, ohne dass das Eine für das Andere zum Problem würde. Denn der Platz ist nicht für eine spezifische Nutzergruppe oder bestimmte Aktivitäten reserviert. Er ist wie erwähnt funktionsoffen. Er gehört allen und niemandem zugleich.
Andernorts ist dies undenkbar: Auf dem öffentlichen Spielplatz stört der einzelne Senior ebenso wie das Kleinkind, das den Skatepark rennend und kletternd erkunden möchte. Nicht das Entstehen einer Vielfalt von Dingen wird angestrebt, sondern das geordnete Entfalten einer bestimmten Palette geplanter «Funktionen». So soll auf dem Spielplatz gespielt, im Skatepark Rollbrett gefahren und auf dem Fussballplatz getschuttet werden.
In einer solchen Planungslogik wird das wenig Greifbare und Zufällige zum Problem, ja, es soll möglichst gar nicht entstehen. Funktionsoffenheit und damit eine Vielfalt von Nutzungsmöglichkeiten und Nutzerkategorien ist in der Regel in der zentral geplanten Stadt unerwünscht. Und wo Vielfalt, Diversität und Teilhabe zentralistisch gedacht planerisch herbeigeführt werden sollen, bleiben sie meistens unrealisierte Idee(n), weil man es letztlich nicht schafft, aus den anonymen Nutzer:innen engagierte «Mitgestalter:innen» zu machen. So verharren diese meist in den Mustern des Konsumierens öffentlicher Räume und Services.
Teilhabe ohne festes Regelwerk
Tauchen wir nochmals in den Wiesli-Alltag ein: Am Nachmittag klettern zwei Nachbarn, Stefan und Andreas, auf Leitern, um das Netz des Fussballplatzes neu zu befestigen. Daraufhin demontieren sie einen Teil der Schaukel, ein gerissenes Metallteil. Einer der beiden hat beruflich die Möglichkeit zu schweissen und will es reparieren. Gleichzeitig lässt Ivo, der neben dem Wiesli wohnt, ein Senkblei vom Spielturm hängen. Der selbst gezimmerte Spielturm ist leicht schief. Regelmässig prüft er, ob sich die Neigung verändert hat und Massnahmen ergriffen werden müssen.
Ein paar Meter daneben, beim Sandkasten, jätet Stefanie vom Haus nebenan im eigens errichteten Hochbeet. Gartentätigkeit aus Eigeninitiative ist an den meisten Orten in der Stadt undenkbar, geschweige denn der eigenhändige Unterhalt von Infrastruktur. In der Öffentlichkeit ausserhalb unserer vier Wände sind wir in der Regel vorwiegend als Konsument:innen und Servicenehmer:innen gefragt (spielend auf dem Spielplatz, liegend auf der Parkwiese), nicht aber als Gestalter:innen von Raum oder Unterhalter:innen von Infrastruktur. Entsprechend lassen einige den Abfall im Stadtpark liegen, kommen und gehen, ohne sich für irgendetwas verantwortlich zu fühlen, oder aber sie denken – wenn sie eigentlich mal die Initiative ergreifen möchten –, dass dies lediglich als Störung empfunden würde.
Auf dem Wiesli hingegen geschieht Teilhabe und Teilnahme alltäglich, ganz natürlich und in sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Es ist eine Wiese, auf der die Quartierbewohner:innen über die Jahrzehnte allerlei Dinge errichtet haben, meist in Eigenregie und unter tatkräftigem Mitwirken: eine Schaukel, Sandkasten, ein Backstein-Cheminée, Fussballtore, einen einbetonierten Ping-Pong-Tisch, einen (mehrfach umgebauten) Kletterturm mit Rutsche.
Das Wiesli ist ein Ort, der durch die Nutzer:innen gestaltet und gepflegt wird, dessen Unterhalt keine Kosten für die Allgemeinheit verursacht. Gemäht wird hier selbst. Gepflanzt und geschnitten wird gemeinschaftlich, im Verband, der vom Baby bis zum alleinstehenden Senior reicht. Dabei bestehen keine formellen Regeln. Weder existiert ein verschriftlichtes Nutzungsreglement, noch sind spezifische Prozesse der Beschlussfassung vorgesehen. Das Wiesli reguliert sich selbst über das informelle Zusammenwirken im gelebten Alltag. Es ist ein Stück Boden, von dem ausgehend eine Reihe von Menschen das ganze Quartier nachhaltig mitgestaltet haben. Mittlerweile setzt sich das auch digital fort: Im «Wieslichat» werden Kleider weitergegeben und verloren gegangene Kinder gesucht. Während all dies von aussen betrachtet nach Magie klingen mag, bedeutet das im Innenverhältnis viel Arbeit und Engagement.
Ein Beispiel mit Modellcharakter?
Das Wiesli ist weit mehr, als es die Begriffe «Spiel- und Begegnungsort» suggerieren. Es ist der Nukleus eines Quartiers. Über diesen kleinen Flecken Grün konstituierte sich innert weniger Jahre eine lebendige Gemeinschaft von mehr oder weniger eng Bekannten. Damit bricht es den vorherrschenden Modus der Anonymität im Stadtraum, ja, ist konstitutiv für die Nachbarschaftskultur im Museumsquartier. Dies ganz ohne öffentliche Gelder und Sozialarbeit.
Natürlich kann das nicht überall funktionieren. Dennoch könnte man in der Art und Weise, wie sich Anwohner:innen im Museumsquartier seit Jahrzehnten rund um das Wiesli selber organisieren und damit sukzessive und unablässig auf ihre Umgebung einwirken, Modellcharakter erblicken – wenn man denn will. Im Ansatz lässt sich ein solcher beispielsweise auch bei der Initiative «Grünes Gallustal» erkennen, in der das Wiesli einen bemerkenswert wichtigen Orientierungspunkt darstellt.
Öffnet man sich dem, was das Wiesli ausmacht, so fallen auch Parallelen zu Fachperspektiven auf Stadtentwicklung auf. Zum Beispiel erinnert der Ort an die Projekte, die der Landschaftsarchitekt Karl Linn in den 1960er-Jahren in den USA realisierte. In Philadelphia experimentierte Linn mit der Schaffung von Gemeingütern in Nachbarschaften, sogenannten «commons». Nach seiner Vorstellung waren die «commons» Parks und Spielplätze, in denen Materialien wiederverwendet wurden und ehrenamtliche Arbeit zentral war. Dies sollte letztlich vor allem eine positive Selbstidentifikation der Gemeindemitglieder schaffen.
Utopische Potenziale
Gerade diese ausgeprägte Selbstidentifikation mit diesem Flecken Wiese schlägt einem entgegen, wenn man mit den Nutzer:innen des Wiesli ins Gespräch kommt. Ein Gefühl der «ownership», die nicht im materiellen Besitz gründet. Monetäre Transaktionen und Privateigentum zählen hier kaum. An diesem Ort werden unentgeltlich Gemeingüter geschaffen, verwaltet, gepflegt und für alle zur Verfügung gestellt.
Es ist damit eine Art und Weise, Nachbarschaft zu begründen, die der Staatskasse (grundsätzlich) nicht zu Buche schlägt, welche die Grundlagen für vielfältige Entwicklungen schafft und damit gleichzeitig von Bürgersinn zeugt. Es ist ein Ort, um den herum die Menschen Verantwortung übernehmen. Verantwortung für den Wandel von Raum und Sozialgefüge. Dabei macht es gerade der Umstand, dass der gemeinsam genutzte Boden niemandem der Beteiligten gehört, dieses Verhältnis zueinander, aber auch zum geteilten Gut so besonders. Er ermöglicht erst eine Ausgangslage der Gleichheit, einen Möglichkeitsraum für «demokratische» Teilhabe am kollektiven Unterfangen Stadt. Ja, das Wiesli hat – so könnte man behaupten – ansatzweise Merkmale eines utopischen Raumes.
Ein historischer Abriss zeigt, dass es zu kurz griffe, die Gemeinschaft rund um das Wiesli als einen Haufen eigennütziger Privilegierter abzustempeln. Von ihr ging in den vergangenen 43 Jahren eine Mehrzahl der wesentlichen Entwicklungen dieser Nachbarschaft aus.
Die Wieslianer:innen prägen den Stadtraum im Quartier nachhaltig und über den eigenen Raum hinaus: Nach der Aneignung des Wiesli folgen insbesondere in den 1980er-Jahren Verkehrsthemen (Verkehrsberuhigung, Schaffung von Wohnstrassen), der Einsatz zur Begrünung des öffentlichen Raumes (z.B. am Rande des Spelteriniplatzes) und die Gründung einer Genossenschaft, um bezahlbaren Wohnraum zu erhalten. Gleichzeitig fliessen immer wieder Geld (um beispielsweise die Sanierung des Spielturms zu ermöglichen) und Energie ins grüne Herz dieser Gemeinschaft. Es wird geschaffen, verändert, gepflegt, betoniert und gebaut. Und vor allem immer wieder gepflanzt. Es sind die vielen Bäume, die die Parzellen umranden, die die besondere Qualität zwischen öffentlich und gemeinschaftlich genutztem Raum begründen.
Doch wie kommt das alles konkret zustande? Fragt man nach, so fällt auf, dass meistens weniger gefragt als gehandelt wurde. Ein Reglement, an dem man sich orientieren könnte, existiert nicht. Einzelne pflanzen nach Lust und Laune neue Bäume. Bisweilen ist eine solche Art der freien Gestaltung anstrengend und auch konflikthaft. Hiervon zeugen Kontroversen in den Quartierbriefen, um Bäume, die dann doch wieder gefällt werden, weil sie zu viel Schatten werfen, oder aber ein Cheminée, das einige Jahre nach seiner Errichtung zerfällt und nicht mehr aufgebaut wird.
Irgendwie findet die Gemeinschaft immer wieder den Rank, stabilisiert sich selbst. Wie fragil ein solches Unterfangen bisweilen sein kann, zeigen wiederholte Aufrufe, sich zu engagieren. Meist sind es Einzelpersonen, die den Karren am Laufen halten. Gewisse Alltagsaufgaben wie das Mähen der Wiese oder aber Unterhaltsarbeiten bleiben zeitweise an wenigen hängen. Schon 1984, als das Wiesli noch ganz jung war, wird im «Quartierbrief» die Frage gestellt: «Warum sind es immer wieder die gleichen, welche Aktionen anregen, vorbereiten und durchführen?» Schaut man genau hin, ist auch das, was auf den ersten Blick utopisch klingt, mängelbehaftet.
Der politische Geist
Wie politisch der Zusammenschluss von Beginn weg war und wie sehr er sich durch solidarischen Gemeinsinn charakterisierte, zeigt ein Blick in die Geschichte.1982 konstatiert Erich Kirtz in einem «Quartierbrief», dass das Quartier «durch Parkplatz suchende Autofahrer und durch schleichende Bürokratisierung» bedroht und bedrängt sei. Mit der Gründung einer Genossenschaft strebte man an, «möglichst viele preisgünstige Wohnungen zu erhalten» und vor «Zweckentfremdung durch Büros» zu schützen.
Ein Jahr später ruft Ivo Scherrer im «Quartierbrief» zum Unterschriftensammeln für die eidgenössische «Stadt-Land-Initiative gegen die Bodenspekulation» auf. Gleichzeitig sagt die Gemeinschaft dem Autoverkehr den Kampf an. Die Strasse wird zum Spielplatz. Auf ihr finden Strassentheater statt, jährlich kommt im Sommer ein Spielbus an die Hadwigstrasse. Mit viel Engagement erreicht man Verkehrsberuhigungen im Quartier (Temporeduktion und achteckige Inseln auf der Notkerstrasse) und die Schaffung von Wohnstrassen (verbunden mit dem Errichten von Sackgassen).
Während beim Wiesli anfänglich der Fokus auf Kindern liegt, wird bald auch über die Integration älterer Quartierbewohner:innen in den Wieslialltag und später über die Bedürfnisse Jugendlicher nachgedacht (auch ein Jugendtreff wird geschaffen). Das Quartier prägt eine integrative Vorstellung von Gemeinschaft. 2005 fragt der langjährige Quartierbewohner Röbi Mähr im «Quartierbrief» gleichsam rhetorisch: «Wer ist auf dem Wiesli willkommen?» Um sogleich selbst die Antwort zu geben: «Alle!»
Doch trifft das wirklich zu? Wie jeglicher gesellschaftliche Zusammenhang funktioniert das Wiesli über Grenzziehungen und damit Praktiken des Ein- und Ausschlusses (formeller oder auch informeller Art). So verhält es sich auch mit Orten wie Kulturlokalen, politischen Parteien, Universitäten oder Freundeskreisen. Gefeit vor diesen Grundmechanismen gesellschaftlichen Zusammenlebens ist kaum ein soziales Gefüge. Selbst dort, wo alle offen für alle sein wollen, fühlen sich längst nicht alle mitgemeint, geschweige denn ermächtigt, tatsächlich aufzutauchen und mitzumachen.
Wenn auch nicht alle auf dem Wiesli auftauchen, zeugt der Alltag dort doch von einem integrativen Geist und einer grundlegenden Offenheit. Das heisst nicht, dass es allen einfach fällt, den Fuss auf das Wiesli zu setzen, gerade dann, wenn man niemanden der Anwesenden kennt, diese aber alle miteinander vertraut zu sein scheinen. Vielleicht hilft ja dieser Text dabei, den ersten Schritt zu machen und das Wiesli selbst zu erkunden.
Eine andere Kindheit in der Stadt
Nochmals zurück zum Anfang, zum Bedürfnis von Irène und anderen Frauen, für ihr Zusammenkommen einen neuen Ort zu finden. Mit Kleinkindern liegt es nahe, die vernachlässigte benachbarte Wiese zu nutzen, statt sich wie bislang im Stadtpark zu treffen. Der kleine Bewegungsradius, der den Alltag junger Familien anfänglich prägt, ist hier wichtig. Ebenso der überschaubare Bewegungsradius von Kleinkindern. Heute beschränkt sich dieser meist auf das elterliche Wohnumfeld. Autos, unbekannte Erwachsene und die abstrakten «Gefahren» des Stadtalltags veranlassen viele Eltern, ihre Kinder an der kurzen Leine zu halten. Der städtische Raum ist nicht für Kinder gebaut. Und gleichzeitig heisst es heute überall, die Kinder verbrächten zu wenig Zeit draussen.
Es ist denn auch einer der bemerkenswertesten Aspekte des Wiesli, dass es eine «andere» Sozialisation in den Stadtraum ermöglicht. Hier machen die Kleinsten ihre ersten Schritte hin zur Bewegungsautonomie. Hier schaffen sie sich über das «Bewohnen» und die «Inbesitznahme» von Büschen erste Exklaven im Alltag, der sonst gänzlich durch die elterliche Autorität und institutionellen Erfordernisse (Kita, Schule etc.) bestimmt ist.
Dabei ist das Wiesli keineswegs deckungsgleich mit dem Bewegungsradius der vielen Kinder im Quartier. Vielmehr ist es der zentrale Ausgangs-, ja Ankerpunkt ihres Spiels, die Basis ihrer Erkundungstouren. Früh schon resultiert das in einer bemerkenswerten Autonomie im Kleinen. Vom Wiesli aus schwärmen die Kinder aus, hierhin ziehen sie sich zurück und hier finden sich Verlorengegangene wieder.
Diese Bewegungsautonomie im geschützten Rahmen wäre in der Weitläufigkeit und Anonymität des Stadtparks nicht denkbar. Eingefasst von Häusern, deren Bewohner:innen die Kinder kennen, im Blickfeld von Küchenfenstern, in der Co-Präsenz von vertrauten Erwachsenen (denn die Eltern der anderen kennt man) und doch behutsam von Bäumen und Büschen umrahmt, wähnen sich die Kinder hier in einem vertrauten, sicheren Raum, dem einzigen Raum wohl, auf den ihr Anspruch gleichwertig ist wie jener der Älteren.
Ohne diesen Nukleus wäre das freie und selbstbewusste Bewegen der Kinder im Quartier kaum im selben Mass denkbar. Gepaart mit einem grundlegenden Gefühl von Selbstermächtigung, ist es eines der wertvollsten Güter, die das Wiesli für eine Kindheit in der Stadt bieten kann, wo Autos an den meisten Orten als Gefahr aufscheinen. All dies verweist wieder auf die Gemeinschaft, die das Wiesli gleichsam umgibt und trägt, von Menschen, die zusammen ermöglichen und sicherstellen, dass Kinder den Raum um sich herum eigenständig und mit überschaubarem Risiko erkunden und in Anspruch nehmen können.
Man könnte den Spiess auch umdrehen
In diesem Text richte ich den Scheinwerfer auf das Wiesli als funktionsoffenen Raum in der Stadt St.Gallen. Als solcher war und ist es konstitutiv für eine unverbindliche und doch enge Gemeinschaft, die ihre Umgebung und den gesellschaftlichen Alltag sorgsam mitgestaltet, unentgeltlich Gemeingüter bereitstellt und pflegt, konsequent Verantwortung übernimmt und mit einer von Grund auf liberalen Haltung, jenseits der heute dominanten Muster des Konsumierens, wirksam ist.
Um all das zu sehen, braucht es einen offenen Blick. Zu sagen, der Stadtpark sei ja auch grün, zu bemerken, dass es dort ebenfalls einen Spielplatz gäbe, zielt am Kern der Sache vorbei, ja zeugt davon, dass man lediglich an der Oberfläche kratzt und wenig Interesse oder Neugier für den gelebten Alltag hat, der sich vor Ort abspielt.
Man könnte den Spiess auch umdrehen und fordern, dass es mehr solcher Orte braucht. Mittlerweile scheint dies auch der Stadt St.Gallen bewusst zu sein. Mit einer aktuellen Ausschreibung fördert sie «Begegnungsorte für Familien und ältere Menschen». Amüsanterweise liest sich das Papier stellenweise wie ein Kurzbeschrieb des Wiesli. Die Ironie des Schicksals will es also, dass das Paradebeispiel dessen, was die Stadt künftig unterstützen möchte, gerade zu verschwinden droht.
Dabei könnte es so einfach sein: In den meisten Städten schlummern irgendwo vergessene, im Alltag kaum beachtete Orte. Wo es sie gibt, werden sie vielfach übersehen, nicht als solche erkannt, womöglich als bedrohlich wahrgenommen und hin und wieder auch mal angeeignet. Die Einzäunung von Brachen, das Platzieren von Verbotsschildern oder das provisorische Errichten von Parkplätzen nach dem Abbruch einer Liegenschaft zeugen von der Besorgnis, dass Unvorhergesehenes passieren könnte.
Das Beispiel Wiesli zeigt, dass das Unvorhergesehene, das geschehen kann, wenn solche Räume entdeckt und angeeignet werden, keineswegs immer nur bedrohlicher Natur sein muss. Es versinnbildlicht vielmehr, wie die Bewohner:innen einer Stadt (und damit auch Kinder) ihre Umgebung und damit sich selbst verändern können. Ob und inwieweit wir dies zulassen, hat das Potenzial darüber mitzuentscheiden, wie die Stadt der Zukunft ausschaut. Nutzen wir die Chance – starten wir die Debatte!
Dieser Beitrag erschien im Märzheft von Saiten.