Leben statt pendeln

Dem Thurgau laufen die Arbeitskräfte davon. Täglich pendeln 45'000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Wirtschaftsregionen Zürich, St.Gallen und Schaffhausen. Der Kanton kann sich das Ausschwärmen seiner Fachkräfte nicht leisten. Jetzt wird er aktiv.
Von  Harry Rosenbaum

«Wir haben geschlafen», sagt ein Unternehmer am Montagabend bei strömendem Regen vor dem angemieteten roten Londoner Doppeldeckerbus, der auf dem Bahnhofplatz in Frauenfeld abgestellt ist. «Höchste Zeit aufzuwachen!» Zweifellos die richtigen Worte: Die Zahl der Wegpendler im Thurgau ist in den letzten sechs Jahren um 70 Prozent gestiegen.

Speed-Dating mit Arbeitgebern

Um möglichst viele der Nomaden wieder in Thurgauer Betrieben sesshaft zu machen, hat das Amt für Wirtschaft und Arbeit gemeinsam mit Thurgauer Unternehmen die Initiative «Leben statt pendeln» lanciert. 

In Frauenfeld war der Auftakt. Heute Mittwoch steht der Londoner Bus ab 17:30 Uhr am Bahnhof Weinfelden, morgen Donnerstag zur gleichen Zeit am Bahnhof Romanshorn. Pendlerinnen und Pendler werden beim Verlassen der Feierabendzüge in den Doppeldecker gebeten, wo sie mit Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern bei sogenannten Speed-Dates siebenminütige Gespräche über deren Betriebe und die Vorteile eines Arbeitsplatzes im Thurgau führen können.

Mit der Initiative wolle man die Pendlerinnen und Pendler für den Arbeitsort Thurgau begeistern und sie zurückholen. Die Unternehmen bräuchten qualifizierte Arbeitskräfte auf allen Stufen, vom Auszubildenden bis hin zur Führungskraft, sagte der Chef des Departementes für Inneres und Volkswirtschaft, Regierungsrat Walter Schönholzer, zum Auftakt vor den Medien.

Noch steht der Thurgau nicht vor dem Totalausverkauf seiner Arbeitskräfte. Aber es herrscht trotzdem bei den Unternehmen Alarm, vor allem wenn es um die Rekrutierung von Fachleuten geht. Schönholzer verströmte in der verzwickten Situation auch Hoffnung. Neben den Wegpendlern, sagte er, gebe es auch ein paar Zupendler. Sie kämen aus den Räumen Zürich, St.Gallen und aus dem deutschen Grenzgebiet.

Werbung für den Arbeitsort Thurgau. (Bilder: Informationsdienst Kanton Thurgau)

Das vor fünf Jahren aufgeschaltete Jobportal www.karriere-thurgau.ch hat laut dem Departementschef bereits 15’000 Clicks pro Monat. Das sei eine zuversichtlich stimmende Entwicklung. Sie soll gezielt verstärkt werden. Die Initiative «Leben statt pendeln» will den Arbeitnehmenden einen ganzheitlichen Blick auf den Werkplatz Thurgau ermöglichen und vor allem das Gewinnbringende an diesem Arbeitsort herausstreichen.

Den Thurgau im Hinterkopf

Ein Unternehmer betonte, dass der Thurgau viele Familien- und KMU-Unternehmen habe und daher auch die von vielen Arbeitnehmenden heutzutage in den Vordergrund gerückte Live-Work-Balance bieten könne. Ein Arbeitspendler, der im Thurgau aufgewachsen ist und einen Job im Wirtschaftsraum St.Gallen hat, sagte am Montag nach dem Instant-Gespräch im Doppeldeckerbus, er habe eine Rückkehr in seinen Heimatkanton schon immer im Hinterkopf gehabt, jetzt sei diese Idee konkreter geworden.

Der Thurgau ist aber noch lange nicht das Nirwana für Arbeitnehmende. Im jüngsten Wirtschaftsbarometer der kantonalen Dienststelle für Statistik heisst es: «Der Schwung in der Thurgauer Wirtschaft lässt allmählich nach.» Indiz für diesen konjunkturellen Dämpfer ist, dass der Bestellungseingang in der Industrie spürbar nachgelassen hat und die Unternehmer vorsichtig geworden seien. «Obwohl Donald Tramp mit uns noch keinen Handelskrieg führt, spüren wir schon mal den Wind, den er macht», meinte ein Unternehmer mit bitterem Lächeln.