«Lasse mir kein Magengeschwür anhängen»

1998 vom «Tagblatt» aus der Konkursmasse der «Ostschweiz» übernommen, war Reto Voneschen 24 Jahre lang ununterbrochen Stadtredaktor. Das Interview zur Pensionierung über die alternative Szene, Stadtentwicklungen und die Zukunft des Lokaljournalismus.
Von  Roman Hertler
Lokaljournalist mit Leib und Seele in seinem Habitat: Reto Voneschen in St.Gallen. (Bild: hrt)

Saiten: Wie wird man Lokalredaktor und warum bleibt man es so lange?

Reto Voneschen: Ich wollte eigentlich immer ins Lokale, da bist du am nächsten bei den Leuten. Du schreibst in ihrem Lebensraum. Schon während des Studiums habe ich fürs «Bündner Tagblatt» Lokalnotizen verfasst, Versammlungen besucht – was man halt so macht als blutiger Anfänger. Wer sich rasch profilieren will, ist im Lokaljournalismus sicher am falschen Ort. Das gelingt da höchstens durch jahrelange, zuverlässige Arbeit.

Du schreibst viel Historisches, sammelst alte St.Galler Ansichtskarten. Warum hast du nicht Geschichte studiert?

Ganz einfach: Ich wollte nicht nach Zürich. Mit der Handelsmatura in Chur gingst du damals an die HSG, wenn du nicht nach Zürich wolltest. BWL und VWL waren aber nicht mein Ding, darum habe ich Staatskunde mit Vertiefung Publizistik studiert. Das gibts heute nur noch als Wahlfach. Viel Staatsrecht, viel Völkerrecht, Ideengeschichte bei Alois Riklin. Von ihm habe ich viel gelernt, auch für meine Arbeit als Journalist.

Du bist ja als langjähriger Genossenschafter vom Schwarzen Engel oder vom Stadtladen auch Teil des alternativen St.Gallens. Wie würdest du den heutigen Zustand der Szene beschreiben?

Ich zähle mich zu den Veteranen. Es gibt immer noch das Roji-Negro-Jassen oder Afrikaribik. Aber der aktive Teil der alternativen Szene, das ist heute das Palace, die Grabenhalle, der Engel. Das sind «junge Wilde» bei Juso oder jungen Grünen. Und es sind erfreulich viele Junge, es gibt diverse Gruppen und Gruppierungen. Das Rümpeltum gibts ja schon lange, aber jetzt ist da auch der Klimastreik, der Frauenstreik etc. Die Szene ist heute bunter und breiter als früher.

Gefühlt hat es auf städtischer Ebene letztmals Mitte der Nullerjahre rund um das sogenannte «Wegweisungsgesetz» gebräselt. Was erreichen Bewegungen, wenn sie immer gleich die ganze Welt retten wollen?

Gerade an globalen Themen wie Klima- und Geschlechterfragen muss man auch lokal arbeiten. In den Köpfen der Leute haben diese Bewegungen definitiv viel erreicht. Im Gegensatz zum Protest gegen das Polizeireglement 2005. Dieser politische Kampf hat schon auch Räume geöffnet, aber ab einem gewissen Moment stand man in einer Sackgasse. Die grosse Demo kam erst nach der Abstimmung. Kurz später warf einer noch einen Molotow-Cocktail in den alten Polizeiposten an der Neugasse. Damit holst du bei der Mehrheit keine Blumensträusse ab. Die Themen haben sich seither verlagert – öffentlicher Raum, Überwachungsstaat, Freiräume stehen heute weniger im Fokus. Was schade ist. Kreise rund ums Rümpeltum pflegen dieses Gedankengut zum Glück noch. Freiräume braucht es und man muss sie sich immer wieder neu erkämpfen.

Das Rümpeltum erhält seine Freiräume heute von der Stadt zur Verfügung gestellt.

Das ist vielleicht der Unterschied zu früher. Heute sitzt der Klimastreik auf die Kreuzung St.Leonhard- und Kornhausstrasse, singt We shall overcome und kommt sich dabei wahnsinnig rebellisch vor. In den Achtzigern war die Debatte noch, ob sich Gewalt nur gegen Sachen oder auch gegen Personen richten soll; es ging härter zur Sache. Gewalt bringt meiner Meinung nach zwar nichts ausser ein paar blutige Grinder und offene Rechnungen in alle Richtungen. Der friedliche Weg ist mühsamer, zeitaufwändiger, aber auch viel sympathischer und daher hat man eine Chance, mehr Leute mitzunehmen, langfristig wirklich etwas zu verändern.

Wo hat sich die Stadt in den letzten 20, 30 Jahren zum Guten verändert?

Seit etwa 20 Jahren ist die Stadt politisch nicht mehr komplett bürgerlich dominiert. Diese Öffnung hat alte Dogmen aufgebrochen. Ich meine zu spüren, dass neoliberaler Fundamentalismus hier skeptischer aufgenommen wird als auch schon – etwa der Aberglaube, dass tiefere Steuern automatisch zu mehr Staatseinnahmen führen. Früher wurde ganz offen die autofreundliche Stadt propagiert. «Bäume gehören in den Wald!», hiess es. Heute ist es breiter Konsens, dass Bäume in der Stadt Lebensqualität bedeuten. Es gab auch Fortschritte etwa bei der Tagesbetreuung. Die städtische Finanzpolitik ist ausgewogener, auch wenn man sich manchmal andere Priorisierungen wünscht.

Was nervt dich an der Stadt?

Ich lasse mir von nichts in dieser Stadt ein Magengeschwür anhängen. Ich bin zwar ein Stadtsanktgaller, aber eben doch auch Zugezogener: Gewisse Dinge dürfen mich kalt lassen. Grundsätzlich nerven mich Leute, die in ihrer Freizeit ins Auto hocken müssen, damit sie sich spüren. Oder: Seit Jahr und Tag predigen alle mehr Naturverständnis. Aber die meisten verstehen darunter bloss: Natur konsumieren. Auch wenn heute viel mehr getan wird punkto Naturschutz: Die rote Liste gefährdeter Arten wird immer länger. Der Insektenbestand hat sich seit den 1960ern halbiert. Man müsste die Natur mehr machen lassen. Ein bisschen mehr Brennnesseln, ein bisschen weniger Eingriffe, weniger Asphalt und Beton. Vor der wild wuchernden Natur scheinen sich aber viele zu fürchten.

Was war dein grösster journalistischer Erfolg?

Im Nachhinein gesehen waren das die Wahlgeschichten. Hanspeter Strebel war mein Lehrmeister bei der Schweizerischen Politischen Korrespondenz, einer Presseagentur. Von ihm habe ich die politische Analyse gelernt, diese Kaffeesatz-Geschichten. Das war ein wichtiger Beitrag, um die Stadtpolitik ins Bewusstsein der Leute zu rücken, vor allem bei Stadtratswahlen. Eine weitere Leistung, die ich für mich beanspruche, ist, dass alle, die etwas öffentlich einigermassen Relevantes zu sagen hatten, auch zu Wort kamen.

Die eine grosse Story gibts nicht?

Meine Leistung sehe ich nicht in den Einzelgeschichten. Ich habe manchmal mehr, manchmal fast gar nicht geschrieben. Auch die Rolle des Blattmachers ist wichtig: Du kannst Akzente setzen und den Schreibenden den Rücken freihalten. Natürlich profiliert man sich persönlich stärker durch klare, scharfe Kommentare. Bei der damals bereits todgeweihten «Ostschweiz» hatten wir diesbezüglich viele Freiheiten. Beim «Tagblatt» wurde man dann zurückhaltender; als Fusionsprodukt und Forumszeitung musste man irgendwie allen Seiten gerecht werden. Im Nachhinein gesehen, war ich in den ersten «Tagblatt»-Jahren zu brav.

Gibt es etwas, das du nie geschrieben hast, obwohl du immer wolltest?

Ich bin Tagesjournalist. Natürlich haben wir tausende Geschichten nicht geschrieben. Aber mir hat zum Glück nie jemand verboten, etwas zu schreiben.

Vielleicht hat sich bloss niemand getraut, dem impulsiven Voneschen reinzureden? Dein militärischer Ton kann ja schon auch einschüchtern.

Wenn ich beim Militär etwas fürs Leben gelernt habe, dann, wie man führt, respektive wie man es eben nicht macht. Man muss auf die Leute eingehen. Aber ja, es gab auch Zeiten, in denen ich bösartig sein konnte. Da würde ich mir im Nachhinein wünschen, manchmal etwas lockerer gewesen zu sein. Bei den ganzen Umstellungen rund ums CH-Media-Joint-Venture, dem Wechsel ins Grossraumbüro etc. gings mir teils nicht gut. Ich hätte fast gekündigt. Bei der neuen Betriebskultur wollte ich nicht stellvertretender Ressortleiter sein.

Wie gehts dem «Tagblatt» heute?

Ich will nicht nur jammern. Klar wurde im Lokalen über meine persönliche Schmerzgrenze hinaus abgebaut, aber das ist ökonomisch gewollt und war vermutlich unausweichlich. Solches wird auch längst in Aarau vorgespurt. Es gab aber auch gute Entwicklungen: Beispielsweise gibt es viel weniger diese kleinen «Königreiche» wie die HSG oder andere Institutionen, die früher mit Samthandschuhen angefasst wurden. Heute wird ziemlich überall hingeschaut.

Wird das «Tagblatt» in zehn Jahren noch gedruckt?

Es wird vermutlich noch eine Printausgabe geben, aber bezüglich Kadenz würde ich keine Prognose wagen. Ich befürchte, dass Aarau künftig noch mehr Ressourcen in den ersten Bund steckt – auf Kosten des Regionalen und Lokalen, nicht nur in der Ostschweiz. Dass eigenständiger Lokaljournalismus ökonomisch funktionieren kann, zeigen regionale Beispiele: «Appenzeller Volksfreund», «Sarganserländer», «Werdenberger & Obertoggenburger». Ein regional-lokaler Schwerpunkt wäre fürs «Tagblatt» nur denkbar gewesen, wenn es grossmehrheitlich in Ostschweizer Händen geblieben wäre. Bei den heutigen Eigentumsverhältnissen ist das nicht möglich.

Und wo bist du in zehn Jahren?

Eines musste ich zuhause versprechen: Ich gehe nicht in die Politik. Also sicher nicht ins Stadtparlament.

Hast du demnach mit dem Gedanken gespielt?

Ja. Am ehesten sähe ich mich irgendwo zwischen Grünen und SP. Verkehrspolitisch vielleicht bei der städtischen GLP. Richtig aufgehoben wäre ich wohl in keiner Partei. Darum werde ich mich höchstens punktuell in die Stadtpolitik einbringen, zum Beispiel in Initiativkomitees. Und ich möchte schreiben, vielleicht Historisches, vielleicht fürs «Tagblatt», vielleicht auch für andere. Aber im Moment will ich mich auf gar nichts festlegen und erst einmal einfach in Rente gehen.

Reto Voneschen, 1957, ist zusammen mit vier Schwestern in einer katholischen Familie in Chur aufgewachsen. Seit einem Vortrag in der dritten Sek über Napoleon begeistert er sich für allerlei Militärisches und Militärstrategisches. Er leistete 1149 Diensttage bei der leichten Flugabwehr, zuletzt als Hauptmann. 1977 zog er fürs Studium nach St.Gallen – und blieb. Nach dem Studium übernahm er die Pressestelle der HSG. 1988 wechselte er via die Schweizerische Politische Korrespondenz (SPK) in den Journalismus. Ab 1994 arbeitete er als Regional-Redaktor bei der damaligen «Ostschweiz». 1998 hat ihn das «Tagblatt» übernommen, wo er seither ununterbrochen für die Stadtredaktion tätig war. Ende Juli geht er in Pension.