Dutzende Autos parkieren am Montagabend vor der Markthalle Toggenburg im Wattwiler Industriegebiet. Wie viele Menschen genau in der Markthalle sitzen, ist nicht überliefert. Ein Anwesender schätzt «weit über hundert». Der Blick auf die Autonummern verrät: Die grosse Mehrheit stammt aus dem Kanton St.Gallen, ein paar vereinzelte aus Appenzell, dem Thurgau und Zürich.
Der Anlass ist höchst fragwürdig. Bereits im Vorfeld hat die kürzlich gegründete Rechercheplattform «Flimmer Media» darüber berichtet: Es handelt sich um einen Vortrag des verschwörungsnahen Pseudomediziners R.N. zum Thema Blauzungenvirus. Ihm zur Seite steht M.S., kein Unbekannter in der hiesigen Staatsverweigerungs-Szene. Eingeladen hat die Vereinigung «üses Toggeburg».
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Flyer der Veranstaltung, auf dem auch das Logo des Bauernvereins Toggenburg zu finden ist. Mehr dazu im unteren Teil des Beitrags.
Tödliche «Heilkunde»
R.N. ist ein gerngesehener Referent in der impfkritischen und esoterischen Szene. Auf Einladung des umstrittenen Medizinvereins Aletheia sprach er auch schon in der Stadt St.Gallen. Er bestreitet unter anderem die Existenz von Viren und befasst sich nach eigenen Angaben mit der «Biologie nach Hamer».
Damit ist die «Germanische Neue Medizin» gemeint. Der deutsche Arzt Ryke Geerd Hamer entwickelte Ende der 1970er-Jahre diese nach ihm benannte «Heilkunde». 1986 wurde ihm die Zulassung entzogen, zudem fiel er immer wieder durch antisemitische Äusserungen auf und vertrat Verschwörungsmythen. Er sass mehrfach wegen Betrugs und illegalen Praktizierens in Haft und wurde in mehreren europäischen Ländern per Haftbefehl gesucht. 2017 ist er in Norwegen gestorben.
Laut Hamers Pseudomedizin gibt es keine Krankheiten, sondern nur innere «Konflikte», die durch «Konfliktolyse» beseitigt werden können, etwa durch positives Denken oder das eigens von ihm komponierte «Zauberlied» Mein Studentenmädchen. Viren und auch Krebs existieren nicht. Die Germanische Neue Medizin hat Anhänger:innen insbesondere in der rechtsextremen, staatsfeindlichen und esoterischen Szene. Seine Behandlungsmethoden haben vor allem bei Krebspatient:innen schon zu zahlreichen Todesfällen geführt.
Dringende Impfempfehlung
Auch Hamer-Fan R.N. bestreitet an seinem Vortrag in Wattwil die Existenz von Viren. Dabei ist das Blauzungenvirus eine ernste Krankheit. Die Tiere leiden. Kürzlich ist ein Artikel in der «Bauernzeitung» erschienen, welcher von bis zu 41,8 Grad Fieber berichtet. Die Tiere fressen nicht mehr, ihre Milchleistung bricht ein und oft leiden sie unter starken Schwellungen, Ausfluss und Hautschäden an Zitzen und Klauen. Ausserdem kann die Krankheit zu Aborten führen. Bei Schafen beträgt die Sterberate bis zu 25 Prozent, bei Rindern bis zu 10 Prozent. In manchen Fällen steigen die Raten aber derzeit bis auf 60 bzw. 30 Prozent. In der Ostschweiz dominiert derzeit der sogenannte Serotyp 3.
Der Blick in die Nachbarländer gibt Anlass zur Sorge. Die aktuelle Viruswelle ist auf einen Ausbruch 2023 in Holland in der Nähe eines Frachtflughafens zurückzuführen. Das Virus hat sich dort wie ein Lauffeuer verbreitet und auch Deutschland in nur einem Jahr regelrecht eingenommen. In beiden Ländern hat sich gezeigt, dass die Verluste in der zweiten Welle noch einmal massiv höher sind als in der ersten. In der Schweiz steigen die Infektionen seit August 2024 an, hier gehen die Fachleute von einem ähnlichen Szenario aus.
Der Bund sagt: Eine Impfung ist die einzige Massnahme, mit der die Tiere vor einer schweren Erkrankung geschützt und massive, langfristige wirtschaftliche Schäden vermieden werden können. Er empfiehlt eine Impfung dringend. Ebenso die Schaf- und Rinderbranche, die Gesellschaft Schweizer Tierärzt:innen, die Tiergesundheitsdienste und die Kantonstierärzt:innen. Gemeinsam haben sie ein Argumentarium für die Impfung herausgegeben.
Diesmal bleibt es aber bei der Impfempfehlung, anders als 2008, als das Blauzungenvirus in der Schweiz zum ersten Mal gewütet hat, genauer: Serotyp 8. Damals verhängte man eine schweizweite Impfpflicht. Heute sehen die Behörden aus verschiedenen Gründen von einer Impfpflicht ab. Sie hoffen, dass die Landwirte von sich aus auf die Empfehlung der Fachleute hören. Verendet ein Tier, gibt es vom Kanton so oder so eine Entschädigung.
Sektenhafte Stimmung
Um sich eine Meinung zum Thema Impfen zu bilden, braucht es aber Informationen. Genau das hat sich A.T. vom Vortrag über das Blauzungenvirus erhofft. Darum fährt der Landwirt aus der Region am Montagabend nach Wattwil. Schliesslich ist auf dem Flyer auch das Logo des Bauernvereins Toggenburg zu finden, eine Instanz mit Gewicht. Dessen Präsident Hansruedi Thoma betonte jedoch «Flimmer» gegenüber bereits im Vorfeld, dass das Logo missbräuchlich verwendet wurde und der Bauernverein mit dieser Veranstaltung nichts zu tun habe.
Den weit über hundert Anwesenden in der Markthalle ist das aber nicht klar. Es gab an dem fast dreistündigen Vortrag auch keine entsprechende Distanzierung seitens der Referenten, sagt A.T. am Telefon. Er will nicht, dass wir seinen vollen Namen nennen. Und er ist sauer. «Die Veranstaltung war eine Falle.» Man habe die Landwirte angelockt unter dem Vorwand, über das Blauzungenvirus zu informieren, aber darum sei es nur am Rande gegangen. Stattdessen seien Verschwörungstheorien über fliegende Spinnfäden und Germanische Neue Medizin verbreitet worden.
«Die Stimmung war richtig sektenmässig», sagt er. «Manchen ist es zum Glück abgelöscht, die ersten sind um 21 Uhr wieder gegangen.» Er selber ist bis zum Schluss geblieben, irritiert und genervt, aber er wollte sich das ganze Theater geben. Wie viele den Erzählungen der Referenten auf den Leim gegangen sind, kann er nicht beurteilen. Aber er vermutet anhand gewisser Reaktionen und Beifallsbekundungen, dass etwa ein Viertel der Anwesenden nicht zum ersten Mal an so einem Vortrag war.