, 8. Oktober 2016
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Ladenlokale und Waschbären

Charles Pfahlbauer jr. über die Operation Strukturwandel im Zentrum der Ostrandzone, den alten Chinesen, geschmuggelte Oliven und ganz wichtig: die Pflege der Siebenschläfer in der Gallenstadt.

Hey hey, mei mei, war das ein Ideenbasar! Allein der Name sorgte für Kreativitätsschübe, wie wir sie lange nicht erlebt hatten: Hipfahllaria! Pfahlster! Pfanalog! Vintagepfahladies! Retropia! Ruprechts Rache! Pfahlhalla! Sankt Phallbau! Und so weiter. Freifröhlichste Assoziationsströme. Sie flossen am Tag, als der Grosse Regen kam und wir im grösseren Kreis mit Miesmuscheln-Spaghetti, Grillsalami, Stangenbohnensalat und üppig Weisswein den Herbstanfang feierten. Und dass die Wahlen bald vorbei wären, die uns wie immer, ob National-, Kantons-, Stadt- oder Gemeinderatswahlen, in unseren christlichsozial verwalteten Genossenschaftshäusern am Steilhang die sonnigen Köpfe der Ceevaupee vor die Eingänge beschert hatten. Wobei uns die gruslige Wahlchose um den alten Chinesen und seine Mannschaft ziemlich kalt liess. Addams Family oder Munsters? Darüber hätte unsereiner vielleicht vor fünfzig Jahren noch streiten können.

Aber eben, ein Reizbegriff hatte alle auf den Plan gerufen: Freie Ladenlokale St.Gallen. So hiess nicht wie erwartet eine brandneue Gähnband aus der Gallenstadt, die es wieder einmal mit deutschen Texten versuchen wollte. Sondern ein Gefäss auf dem Wurmfortsatz der Nichtigkeiten, das Kranich, unser Fachbeauftragter für sonderbare Medien, entdeckt hatte. Der schlaksige Wuschelkopf checkte für uns, wie man so sagt, all die frischen Locations und partizipativen Bewegungen; neuerdings verkehrte er zum Beispiel im Lattich und im Museum der Leere, was er beides nur halbherzig empfahl. Freie Ladenlokale St.Gallen, rief Kranich, das ist die kommende Bewegung, das ist die neue Expo! Wenn die Krämer erst verschwunden sind, kommen die Kleinpfähler. Und wenn der Jumbo die Gallenstadt liquidiert, bauen wir sie nigelnagelneu auf! Wie immer übertrieb er ein bisschen, doch wir sahen sofort seinen Punkt: Operation Strukturwandel im Zentrum der Ostrandzone! Was den einen ihr Leid, ist den unsern eine Freud!

Pfahlbauer-Läden an jeder Ecke, Schmalhansens Furzflohmarkt, Sumpfbibers Steinsammlung, Rotbackes Segeltuchlabyrinth, Henriettes Gummikleintierzoo! Und ernsthafter: Pickelpavels tschechische Alkoholkollektion, waghalsige Direktlieferung garantiert. Harry Grimms geschmuggelte Merguez, Salamis und Oliven, für einmal für alle offiziell ausgelegt. Wir würden endlich zeigen, wieviel wir der gebeutelten Gallenstadt in all den Jahren an Lebenszuschüssen gebracht hatten. Allein unsere Pflege des Tierlebens verdiente einen ständigen Schaukasten! Die vielen Quartierkatzen, denen wir gut zugeredet und mit denen wir – ach der verschwundene rote Läufer! – so manche Geländermeter zurückgelegt hatten. Die jungen Füchse, die wir am Hang betreut hatten. Die beiden Dachse, die wir gefüttert hatten. Die Mäuse, Hühner, Krähen, die Waschbären und die Siebenschläfer, die wir ausgesetzt hatten. Vor allem die Siebenschläfer. Wie die für Belebung sorgten in der sterbenden Innengallstadt.

So blitzartig der Ideensprühregen gekommen war und so hell die Visionen funkelten, so schnell machte sich auch eine gewisse Ermattung breit. Und dann trat Pavels Kumpel, ein bleicher Italiener, vehement auf die Spassbremse: Ihr habt keine Chance, lallte er, erstens sind noch die randständigsten freien Ladenlokale jenseits all eurer Budgets, und zweitens werden auch die wieselflink von den vorherrschenden Interessensgruppen eingenommen sein, als da kommen Nagelstudios, Hipsternippeslädeli, Autogaragen, Yogastudios, Tätowierschuppen, Digitalgalerien, Flexibastelräume, was halt so läuft. Prompt war der Stecker draussen, die Stimmung am Boden. Kurz bevor die ganze Miesmuschelrunde angesäuert kippte, machte Sumpfbiber einen Vorschlag zur Güte: Lasst uns wieder einmal Melancholia schauen, schöner Sterben in Hunter-Stiefeln, morgen sieht die Welt ganz anders aus. Wir liessen es uns gefallen. Aber die Faszination blieb: Freie Ladenlokale St.Gallen, ein Zauberwort für eine Zukunft, die nicht in Zureich enden muss.

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