Ende November versenkte die Schweizer Stimmbevölkerung mit knapp 53 Prozent Nein-Stimmen die sechs Projekte für Kapazitätserweiterungen auf dem Autobahnnetz – darunter auch die beiden Ostschweizer Projekte: in St.Gallen die dritte Röhre für den Rosenbergtunnel und den neuen Anschluss im Güterbahnhofareal mit der Verbindung ins Appenzellerland sowie in Schaffhausen die zweite Röhre des Fäsenstaubtunnels. Ein unmissverständliches Resultat, dazu ein historisches, denn erstmals überhaupt scheiterte eine Vorlage für den Ausbau von Autobahnen an der Urne.
Unmissverständlich? Offenbar nicht für alle. Jetzt, nur etwas mehr als drei Monate später, bringt eine Allianz von Verbänden und bürgerlichen Politiker:innen aus den Kantonen St.Gallen, Thurgau, beiden Appenzell und Schaffhausen die Ostschweizer Projekte wieder aufs Tapet. Sie sollen gleich in den nächsten Ausbauschritt für die Nationalstrassen aufgenommen werden, dazu die Bodensee-Thurtalstrasse – die Verbindung zwischen der A1 bei Rorschach und der A7 bei Frauenfeld – und der Zubringer Appenzellerland zwischen Gossau und Herisau beziehungsweise Appenzell.
Diesen Schulterschluss demonstrierte die Allianz am Donnerstag an einer gemeinsamen Medienkonferenz in St.Gallen. Dabei waren Walter Locher als Präsident des Hauseigentümerverbands des Kantons St.Gallen, die beiden IHK-Direktoren Markus Bänziger (St.Gallen-Appenzell) und Jérôme Müggler (Thurgau), die St.Galler Kantonsrät:innen Isabel Schorer (FDP), Donat Kuratli (SVP), Ruben Schuler (FDP) und Boris Tschirky (Mitte), die Schaffhauser Kantonsrätin Nina Schärrer (FDP), der Thurgauer Kantonsrat Stefan Mühlemann (SVP), der Romanshorner Stadtrat Philipp Gemperle (FDP) sowie fürs Appenzellerland Werner Giezendanner (Kantonsrat FDP/AR) und Michael Koller (Grossrat AI), der auch Präsident des Innerrhoder Gewerbeverbands ist.
Verpflichtet, die Probleme zu lösen
Die Ostschweizer Kantone hätten Ja gesagt zu den Autobahnausbauten, deshalb stehe «die Ostschweiz» weiterhin zu ihren Verkehrsvorhaben, sagte Locher, der auch Präsident der 2013 gegründeten IG Engpassbeseitigung ist und massgeblich dafür verantwortlich war, dass es das St.Gallen Projekt in den Ausbauschritt 2023 schaffte. Die Mobilitäts- und Erreichbarkeitsprobleme würden immer grösser, als Vertreter der Verbände und Parlamente seien sie verpflichtet, diese Probleme nicht nur zu benennen, sondern auch zu lösen. «Wir können es nicht hinnehmen, dass die Erreichbarkeit darniederliegt, wenn sich dereinst (während der Sanierung der beiden bestehenden Rosenberg-Röhren, Anm. d. Red.) täglich bis zu 50'000 Fahrzeuge durch die Stadt St.Gallen wälzen, sofern nichts passiert.» Es brauche eine Weiterentwicklung der Mobilität und der Erreichbarkeit, «und dieses Signal wollen wir auch nach Bern schicken».
Dazu wollen die bürgerlichen Kräfte in den jeweiligen Kantonsparlamenten entsprechende Standesinitiativen einreichen, im St.Galler Kantonsrat bereits in der Frühjahrssession, die am kommenden Montag beginnt. Aufgrund der Mehrheiten ist davon auszugehen, dass die Standesinitiativen in allen Kantonen angenommen werden. Welche Aussichten auf Erfolg sie dann in Bern haben werden, steht allerdings auf einem anderen Blatt.
Die Demokratie mit Füssen treten
Dass die Verkehrsallianz, zu der gewählte Volksvertreter:innen gehören, diesen Schritt geht, ist bedenklich. Dieses Vorgehen damit zu legitimieren, dass die betroffenen Kantone allesamt Ja gesagt haben zu den Autobahnausbauten, und das Resultat der nationalen Abstimmung so zu interpretieren, dass es den eigenen Interessen dient, zeugt von ganz schlechtem Stil. Wer so handelt und sich um einen Volksentscheid foutiert, tritt die Demokratie mit Füssen.
Walter Locher wollte diesen Vorwurf nicht stehen lassen. Seine Begründung: Die sechs Projekte seien als Paket zur Abstimmung gekommen, nicht als einzelne Vorlagen. Man könne folglich nicht sagen, dass das Schweizervolk zu den beiden Projekten in St.Gallen und Schaffhausen auch dann Nein gesagt hätte, wenn es über sie separat hätte abstimmen können.
Das tut ohnehin nichts zur Sache. Zum einen gibt es staatspolitische Gründe dafür, warum auf nationaler Ebene über alle sechs Projekte gemeinsam abgestimmt wurde. Zum anderen war das Nein eben auch ein Nein zu einer Verkehrspolitik, die als einzige Antwort auf die Verkehrsprobleme den Bau neuer Strassen kennt. Insofern war und ist es unerheblich, wo sich die einzelnen Projekte befinden. Den Vorwurf muss sich die Allianz deshalb gefallen lassen.
Abenteuerlich wurde es dann, als Locher auf den Einwand zu sprechen kam, dass die Städte St.Gallen und Schaffhausen die Autobahnausbauten klar abgelehnt haben. Man könne auch sagen, der Widerstand in der Stadt hätte eine andere Volksabstimmung mit Füssen getreten, sagte der HEV-Präsident. Denn 2016 hätten in St.Gallen 66 Prozent der Stimmberechtigten die Initiative, die das Güterbahnhofareal vor dem Autobahnzubringer schützen wollte, abgelehnt. Da damals die Stimmbeteiligung mit über 60 Prozent höher gewesen sei als bei der Abstimmung vom Herbst mit 46 Prozent, sei letztere «wesentlich weniger repräsentativ». Deshalb könne man aus dem Nein in der eidgenössischen Abstimmung nicht folgern, es handle sich um ein «generelles Nein».
Nationalrat Götte wurde schon aktiv
So dreist dieser politische Winkelzug ist, überraschend kommt er nicht: Schon einen Tag nach der Abstimmung kündigte der St.Galler SVP-Nationalrat Michael Götte im «St.Galler Tagblatt» eine Interpellation an den Bundesrat an, um die dritte Röhre des Rosenbergtunnels als «Notfalltunnel» zu retten («leider ohne den Anschluss Güterbahnhof», wie er selbst sagte). Diese reichte er Anfang Dezember ein. In seiner Stellungnahme vom 12. Februar schrieb der Bundesrat, eine inhaltliche Stellungnahme zur Frage der dritten Röhre käme verfrüht. Das UVEK habe die ETH beauftragt, die «Priorisierung der Projektportfolios von Strasse, Schiene und Agglomerationsprogrammen» zu untersuchen, erst dann werde über das weitere Vorgehen entschieden. Der Idee von Götte, bei künftigen Projekten diejenigen Regionen zu bevorzugen, die der Vorlage für die Autobahnausbauten zugestimmt hätten, erteilte der Bundesrat jedoch eine Abfuhr.
Die IHK St.Gallen-Appenzell hatte sich nach der Abstimmung mit einer Medienmitteilung geäussert. Darin liess sich Markus Bänziger mit den Worten zitieren, die Politik sei nun gefordert, «alternative Lösungen für eine wirkungsvolle Verkehrsentlastung» zu finden. Von solchen alternativen Lösungen war am Donnerstag wenig bis gar nichts zu hören, weder von Bänziger noch von den anderen Teilnehmer:innen. Stattdessen mutete die Veranstaltung an, als befinde sich die Allianz immer noch im Abstimmungskampf. Zu hören gab es die altbekannten Argumente: zunehmender Verkehr, drohende Engpässe, stundenlange Staus, mangelhafte Erreichbarkeit, fehlende Standortattraktivität.
Ostschweiz finanziell benachteiligt
Die Erreichbarkeit auf allen Verkehrswegen sei ein entscheidender Standortfaktor und eine Voraussetzung für die Attraktivität einer Region, sei es für die Wirtschaft oder «als Ort zum Wohnen, Leben und Arbeiten», sagte Bänziger an der Medienkonferenz. Die Strasse bleibe der «grosse, grosse Verkehrsträger für Menschen und Güter». Dabei sei die Realisierung von Mobilitätsprojekten ein «politisches Ringen zwischen den Kantonen», das spiegle sich in der Verteilung der Mittel: Zwischen 1990 und 2021 habe der Bund 37 Milliarden Franken für den Neubau von Nationalstrassen ausgegeben, nur 3,6 Prozent davon seien in die fünf Kantone St.Gallen, Thurgau, beide Appenzell und Schaffhausen geflossen, in denen zehn Prozent der Schweizer Bevölkerung lebten. Das erkläre auch, warum sie geschlossen den Autobahnausbauten zugestimmt hätten. Bei diesen handle es sich nicht um «pauschale Ausbauprojekte», sondern um «zielgerichtete Massnahmen zur Verbesserung der bestehenden Linienführung». Es gehe also nicht um Kapazitätserweiterungen auf Vorrat, sondern um Entlastungen. Im Vordergrund stünden dabei «ressourcenschonende Tunnellösungen».
Isabel Schorer stellte ihren Vortrag unter den Titel «Urbaner Herzinfarkt oder urbanes Leben». Wer glaube, dass die Verkehrsverlagerung auf den öV ausreiche, um die notwendige Mobilität für Mensch und Wirtschaft in und um St.Gallen zu bewältigen, ignoriere schlicht die Realität. Wenn die Stadtautobahn als Rückgrat überlastet sei, kollabiere das ganze städtische Strassennetz, inklusive des öV. Dann seien auch Menschenleben gefährdet, weil Blaulichtorganisationen nicht mehr durchkämen. «Es geht nicht mehr um Ideologie und um Ideen, sondern schlicht und einfach um Facts.» Fakten zur Häufigkeit solcher Verkehrskollapse in der Stadt St.Gallen oder zur Dauer der täglichen Staus auf der Stadtautobahn und dem Knoten Kreuzbleich/St.Leonhard gab es von Schorer aber nicht zu hören. Vielleicht, weil die Situation gar nicht so dramatisch ist?
SVP-Präsident operiert mit falschen Zahlen
In dieselbe Kerbe schlug Donat Kuratli. Heute würden täglich über 80'000 Fahrzeuge durch den Rosenbergtunnel fahren – 25 Prozent mehr als vor zehn Jahren. Das zeige unmissverständlich, in welche Richtung sich die Mobilität bewege. Diese Zahlen sind allerdings falsch. Richtig ist: Der Verkehr durch den Rosenbergtunnel hat sich gemäss Messungen des städtischen Tiefbauamts zwischen 1990 und 2016 fast verdoppelt – von 44'000 Fahrzeugen pro Tag auf 80'400. 2017 und 2018 blieb die Verkehrsmenge gleich hoch, 2019 ging sie auf unter 79'000 Fahrzeuge zurück, 2020 brach sie wegen Corona auf rund 70'000 Fahrzeuge ein und seither hat sie sich zwischen 72'000 (2022) und knapp 73'000 (2023) eingependelt. Das entspricht dem Wert von 2009. Man müsste also von einem Rückgang von fast 10 Prozent reden und nicht von einem Anstieg von 25 Prozent.
Was Kuratli richtigerweise auch sagte: Ein erheblicher Teil des Verkehrs auf der St.Galler Stadtautobahn sei innerstädtischer Verkehr. Genau deshalb brauche es die dritte Röhre und «zwingend auch die Teilspange Güterbahnhof». Ideen, wie man den innerstädtisch verursachten Individualverkehr bändigen oder verlagern könnte, gab es von ihm jedoch nicht zu hören. Im Gegenteil. Menschen müssten zur Arbeit, ihre Kinder in die Schule bringen oder ihre Freizeit gestalten – für Lösungen ohne Auto fehlt offenbar die Fantasie. So sagte Kuratli weiter, es sei «eine Illusion», dass sich die Verkehrsprobleme durch besseres Verkehrsmanagement lösen liessen.
Wo kein Wille ist, ist auch kein Weg. Und wo kein Weg ist, können nur neue Strassen helfen. Passend dazu rühmte sich die SVP der Stadt St.Gallen, die Kuratli präsidiert, im Wahlkampf vor den Stadtparlamentswahlen vom vergangenen September auf ihren Social-Media-Kanälen damit, sie habe sich als einzige Partei gegen das «Millionenprojekt Velotunnel» bei der Kreuzbleiche – ein «unnötiges Luxusprojekt» – gewehrt.
Strassen als «Lebensadern»
Mit ähnlichen Begründungen wie Schorer und Kuratli verteidigte Nina Schärrer die zweite Röhre des Fäsenstaubtunnels in Schaffhausen. Jérôme Müggler wiederum bezeichnete die Bodensee-Thurtalstrasse (BTS) als «Lebensader von Ost nach West». Wenn diese nicht funktioniere, habe man ein gesundheitliches Problem, und das treffe auch auf den Thurgau als schweizweit am stärksten wachsenden Kanton zu. Philipp Gemperle ergänzte, die BTS sei kein Strassenprojekt, das sei «nur Mittel zum Zweck». Sie sei vielmehr «ein Entwicklungsprojekt, ein Erschliessungsprojekt, ein Lärmschutzprojekt», ja sogar «ein Umweltprojekt». Die Thurgauer Bevölkerung habe 2012 dazu Ja gesagt und warte seither, dass etwas passiere. Die ganze Siedlungs- und Verkehrsentwicklung im kantonalen Richtplan sei darauf abgestimmt. «Wenn die BTS nicht kommt, funktioniert die ganze Planung nicht.»
Von Nationalstrassen als «wirtschaftlichen Lebensadern» für den ländlichen Raum sprach auch Michael Koller. Die Ausbauten im Appenzellerland würden gemäss Werner Giezendanner die Herisauer Quartiere vom Verkehr entlasten.
Ihre selbstauferlegte Pflicht, die Verkehrsprobleme zu lösen, sehen die Vertreter:innen der Allianz also weiterhin darin, vor allem für neue Strassen zu kämpfen. Dass man die Verkehrsträger nicht «gegeneinander ausspielen» darf – ein Bonmot von bürgerlicher Seite, sobald es um Massnahmen gegen Autos geht –, haben sie auch an der Medienkonferenz mehrfach betont. Man wird also hinschauen müssen, ob sie diese Pflicht auch bei künftigen Projekten für den Ausbau den öV sowie des Fuss- und Veloverkehrs wahrnehmen.