Kunst als Atopie
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Derzeit läuft im Open Art Museum in St.Gallen «eine Ausstellung, in der wir realisieren sollen, wovon wir nichts wissen», wie es die Museumsleiterin Monika Jagfeld formuliert. Unter dem Titel «Outsider Art unter dem Halbmond» werden Werke von 25 Künstler:innen vorwiegend aus dem Iran und Marokko, aber auch aus Syrien und der Türkei gezeigt. Es ist somit die erste Ausstellung schweizweit, die Outsider Art aus islamisch geprägten Ländern zum Thema macht.
Gleichzeitig handelt es sich um die letzte Ausstellung der Trilogie «Das ‹Andere› in der Kunst»: Die Ausstellung «Antonio Ligabue – der Schweizer Van Gogh» (2019) ist der Frage nach sozialer Identität nachgegangen, «Crazy, Queer and Loveable: Ovartaci» im Dialog mit «ICH DU ER SIE XIER: Transidentität» (2019/20) thematisierte Trans- und Geschlechtsidentitäten. Die aktuelle Ausstellung widmet sich nun den Fragen nach kultureller Diversität und religiöser Prägung in der sogenannten Outsider Art.
Aber wie weit greift dieser Begriff überhaupt? Termini wie Art brut als Gegenentwurf zur Art culturel oder Outsider Art im Sinne eines Kunstschaffens ausserhalb des etablierten Kunstbetriebs sind aus einem eurozentristischen Kunstverständnis heraus entstanden. Lassen sich solche Konstrukte auf Kulturkreise ausserhalb Europas und Amerikas übertragen? Diese und weitere Fragen wirft «Outsider Art unter dem Halbmond» auf, wobei es nicht um Nationalisierung von Kunst geht, sondern darum, kulturelle Kontexte zu schaffen und nach dem Auslöser von Kunst zu fragen.
Von der inneren Emigration ins Exil
Auf einem Bildschirm erfahren die Besucher:innen durch verschiedene Filmaufnahmen mehr über die einzelnen Künstler:innen und ihr Schaffen. Prägnant formulierte Infoschilder verweisen auf deren Werdegang. Da ist beispielsweise Mansour Fourohi (*1937) aus dem Iran, der mit 75 Jahren erst zu zeichnen beginnt und mit Kugelschreiber Zigarettenschachteln bemalt. Oder Alikhan Abdollahi (*1963), der aus Afghanistan stammt und im Iran lebt, wo er aus Papiermaché halb mythische, halb anthropomorphe Skulpturen erschafft. Oder Khadija (*um 1980) aus Marokko, die Frauenporträts gemalt hat, obdachlos ist und seit zwei Jahren von niemandem mehr gesehen wurde.
Einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden die Werke von Samaneh Atef (*1989). Die iranische Künstlerin setzt sich selbst – die Frau – und ihre Bedrängnis als Frau ins Zentrum ihrer Bilder. Aufgrund ihrer Darstellung von Weiblichkeit, in einem Staat, der Frauen unterdrückt und entrechtet, lebte sie in innerer Emigration. 2020 musste sie aus dem Iran ins Exil fliehen und wohnt seither in Lyon.
Mit dem Fokus auf Samaneh Atefs Werk wird die Position von Frauen unterstützt, die mit dem Mullah-Regime in Konflikt geraten. Ebenfalls wird dem Ungleichgewicht in der Ausstellung – vier Künstlerinnen und 21 Künstler – entgegengewirkt und das Themenfeld durch das Kunstschaffen im Exil erweitert. Deutlich zeigt sich am Beispiel dieser Künstlerin, wie insbesondere Outsider Art aufgrund ihrer Subjektivität sowohl das Erleben sozialer Normen als auch gegenwärtige gesellschaftliche Themen sichtbar machen kann.
Revolte mit abendländischer Heraldik
Weil Differenzen und Ähnlichkeiten besonders im Dialog erkennbar werden, ist den Kunstschaffenden aus dem Kulturkontext Islam der Schweizer Art-brut-Künstler Peter Wirz (1915-2000) gegenübergestellt. Wirz steht dabei stellvertretend für ein westeuropäisches Kunstverständnis von Outsider Art und für eine christlich geprägte Kunstgeschichte.
«Outsider Art unter dem Halbmond» und «Peter Wirz: Kontinent Wirziana»: bis 20. August, Open Art Museum St.Gallen
Der gesellschaftlich ausgegrenzte Sohn des bekannten Ethnologen Paul Wirz (1892-1955) entwickelte in zahlreichen Farbstiftzeichnungen und Texten im Verborgenen den «Kontinent Wirziana». Ein streng hierarchisches System, das auf christlichen Werten und abendländischer Heraldik aufbaut und das, als eine Art Gegenwelt, in starkem Kontrast zum Leben seines Vaters steht.
Die Ausstellung im Open Art Museum macht klar, dass es nicht die iranische Kunst gibt. Kunst ist vielmehr stark lokal verwurzelt. Genauso wie man allgemein nicht von der Kunst sprechen kann, sondern nur von Kunst oder eben Künsten. Gemäss Monika Jagfeld soll die Ausstellung einen Denkanstoss geben, um sich bewusst zu machen, dass unsere Welt ganz verschiedene Künste hervorbringt. «Outsider Art ist nie eindeutig zu definieren, nie eindeutig zuzuordnen, nie eindeutig zu verorten – sie ist eine Atopie», so Jagfeld. Festgefahrene Denkmuster sollen hinterfragt und eine Diskussion der Idee von Kunst als eine Atopie eröffnet werden.