Kulturkämpfe bis zuletzt
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Seit 125 Jahren steht das St.Galler Volkshaus an der Lämmlisbrunnenstrasse 41, ein stabiler, architektonisch bürgerlich erscheinender Backsteinbau. Unverrückbar, allen weltanschaulichen Differenzen, welche die Menschen darin umtrieb, trotzend. «Wie es entstand und warum es geblieben ist» lautet der Untertitel des neuen Buchs Das St.Galler Volkshaus von Ralph Hug.
Eher zufällig stiess der Journalist und Historiker 2019 in einem unscheinbaren Schrank zuhinterst im Volkshaus-Estrich auf die Protokollbücher des Allgemeinen Arbeiterbildungsvereins. Damit konnte erstmals die Gründungs- und Baugeschichte des Volkshauses in St. Gallen nachgezeichnet werden. Der ehemalige Stadtarchivar Marcel Mayer hat das Kapitel dazu beigesteuert.
Das Jahrhundert von links
Ralph Hug nimmt die von der Volkshausgenossenschaft initiierte Jubiläumspublikation zum Anlass, an der Geschichtsschreibung über die gewerkschaftliche und politische Linke in der Ostschweiz dort anzuknüpfen, wo Louis Specker (1939–2022) mit seinem umfassenden Grundlagenwerk Links aufmarschieren 2010 aufgehört hat – beim Ersten Weltkrieg. Hug schildert das linke 20. Jahrhundert in St.Gallen auf bekömmlichen, reich bebilderten 160 Seiten und verzichtet dabei auf schwere Fussnotenapparate: Das Volkshaus als Bildungsstätte um 1900, als lokale Streikzentrale im Landesstreik, als regionaler Treffpunkt des Antifaschismus in den 1930er-Jahren, als innerlinker Debattenort im Kalten Krieg und in den 1990ern sogar als subkultureller Hotspot der Stadt.
Ralph Hug: Das St. Galler Volkshaus – Wie es entstand und warum es geblieben ist. Verlag FormatOst, Schwellbrunn 2024.
Vom Volkshaus zum Palace: Erfreuliche Uni, Vortrag von Ralph Hug über das innerlinke Zerwürfnis in St.Gallen in den 1980er-Jahren und dessen Folgen. Im Rahmen von «100 Jahre Palace». Sonntag, 24. März, 12 Uhr, Palace St.Gallen
So wie praktisch alle grösseren soziokulturellen Entwicklungen in St.Gallen von aussen angestossen wurden, wurzelt auch die Geschichte des Volkshauses im Milieu der deutschen Arbeitsmigranten. Hier wie im Buch explizit im männlich-generischen Plural. Nicht, weil Frauen keine wichtige Rolle gespielt hätten, sondern vor allem, weil auch in den Schriftquellen der frühen St.Galler Arbeiterbewegung bis weit in die 1960er-Jahre hinein die Frauen praktisch nicht repräsentiert sind. Autor Ralph Hug gelingt es dennoch, im Buch immer wieder prägende Frauenfiguren ins Zentrum zu rücken. Zum Beispiel Barbara Ochsner vom Beizenkollektiv, welches das Restaurant in den 1990ern vorübergehend zur alternativen Kulturbeiz machte.
Ein Highlight des Buchs ist das Kapitel über die ukrainisch-stämmige Kommunistin Angelica Balabanoff. 1904 kam die Journalistin, Gewerkschafterin und Revolutionärin via Italien nach St.Gallen, leistete in ihrem Volkshaus-Bürokämmerlein Enormes für die italienischen Gastarbeiterinnen und machte in einer Artikelserie die Zustände in den St.Galler Fabrikklöstern publik. Später unterstützte sie an der Seite Lenins die bolschewistische Revolution in Moskau. Balabanoffs Wirken in der Ostschweiz ist bisher noch nie so umfassend beleuchtet worden.
Neue Linke, schiefe Töne
Die Austragung innerlinker Konflikte gehörte im Volkshaus zur Tagesordnung. Die sozialreformerischen Gewerkschaften und die SP übernahmen im Volkshaus in den 1920ern das Zepter von den deutschnationalen Handwerksgesellen. Ab den 1960ern erhitzte vor allem die Frage die Gemüter, ob sich moskautreue Parteien wie die PdA oder die POSG hier einrichten durften. Entscheide dazu wurden mehrfach gekippt. Vor allem der gewichtige Metallarbeiterverband SMUV hielt stets an seinem stramm antikommunistischen Kurs fest, nach dem Ungarn-Aufstand 1956 sowieso. Die Frage nach der Armeeabschaffung führte 1985 zum historischen Bruch zwischen SP und Gewerkschaftsbund, der erst ein Jahrzehnt später überwunden werden konnte.
Das Volkshaus war auch immer ein Kulturort. Waren anfangs vor allem die Arbeiterradfahrer oder der Arbeitergesangsverein um das Unterhaltungsprogramm bemüht, fegte 1972 die Berliner Agit- Rockgruppe Ton Steine Scherben die Blaskapellen-Atmosphäre aus dem Backsteingemäuer. Doch hatten es die Vertreter:innen der Post-68er- und 80er-Subkulturen stets schwer im Volkshaus. Die traditionalistischen Gewerkschaften behielten lange die Oberhand, auch im «grossen Streit» mit der Beizengenossenschaft, die von 1990 bis 1994 den alternativkulturellen Aufbruch im «Haus der Roten» wagte.
Die SP verlegte ihr Sekretariat 1996 in die Hintere Post, wo sich auch das ehemalige Volkshaus-Beizenkollektiv einrichtete. Heute befindet sich das SP-Sekretariat ebenso wie jenes der Gewerkschaft VPOD und des Gewerkschaftsbundes in den oberen Etagen über dem Alternativkulturtempel Palace, der seinerseits das 100-Jährige feiert.
Im Volkshaus verblieben ist die UNIA, die aus einer Fusion des SMUV, der Gewerkschaft Bau und Industrie und dem Verband des Personals Handel, Transport, Lebensmittel hervorgegangen ist. Und dem Restaurant Toscana gelingt es nun seit über 25 Jahren mit authentischer Italianitá, alte ideologische Gräben zu überwinden. Heute wagen sich sogar bürgerliche Regierungsrät:innen zum Zmittag in die einstige Trutzburg der vereinigten Linken, wo sich früher nicht einmal die zivil gekleidete politische Abteilung der Kantonspolizei zwecks Fichenfütterung hineintraute.