Kultur in Ausserrhoden: Ruhe und Weltanschluss
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Saiten: Was zeichnet die Ausserrhoder Kulturszene aus?
Margrit Bürer: Eine grosse Vielseitigkeit, in allen Sparten. Es ist ein Kommen und Gehen. Künstlerinnen und Künstler gehen weg, sie müssen weggehen, um sich auszubilden, aber sie bleiben in Verbindung. Die Netzwerke halten. Und viele kommen zurück und stellen fest: Hier gibt es Freiräume, die ich anderswo nicht habe.
Worin bestehen diese Freiräume?
Man kann ausprobieren, und dies, ohne dabei permanent unter Beobachtung oder in Konkurrenzsituationen zu stehen wie in einer Stadt wie Zürich oder Bern. Kunstschaffende können in Ruhe etwas entwickeln. Das ist eine wichtige Qualität, auch im Kulturleben.
Und was dabei an Werken und Projekten entsteht: Bleibt das auch im Land?
Zum Teil. Die Frage ist, wie die breite Bevölkerung davon erfährt und daran mitbeteiligt werden kann, weil es eben nicht die dominierenden Institutionen gibt wie in Städten oder in vielen anderen Kantonen. Es gibt keinen grossen Konzertsaal, wenn man vom Casino Herisau absieht, keine grosse Theaterbühne oder ein Tanzhaus, kein Kunstmuseum. Es gibt allerdings kleine Museen mit ihren Eigenheiten und Qualitäten, auch kleinere Bühnen. Aber das heisst: der klare öffentliche Raum, in dem sich Kulturschaffende und Kulturinteressierte selbstverständlich begegnen, der fehlt. Es passiert vieles in kleinerem Rahmen oder im Privatbereich.
Oder man erfindet neue kulturelle Orte…
Genau. Das passiert auch immer wieder. Es ist allerdings aufwendig, sich irgendwo einzunisten – aber sehr charakteristisch für die Ausserrhoder Kulturlandschaft. Der Schaukasten in Herisau war ein solcher Ort, der regelmässig Kunst und Menschen zusammengebracht hat. Heute bietet das Zeughaus Teufen mit seinen Vernissagen solche Anlässe, die sehr gut besucht sind. Sich zu treffen und auszutauschen, das ist ein wichtiger Aspekt der Kultur.
2013, zum 500-Jahr-Jubiläum des Beitritts zur Eidgenossenschaft, gab es die Ledi, eine Wanderbühne. Wie waren die Erfahrungen?
Das war eine grossartige Erfindung, eine Bühne im wörtlichen und im symbolischen Sinn, die alle einbezogen hat, die keine Sparten- oder Stilgrenzen kannte, die für alle Platz hatte, für die Volkskultur ebenso wie für das zeitgenössische Schaffen und auch für Leute, die nur an der Bar etwas trinken wollten. Man konnte Entdeckungen machen, was an Ideenreichtum alles da ist. Und die Ledi zog von Ort zu Ort.
Die Kulturlandsgemeinde tut das auch.
Die Kulturlandsgemeinde hat vergleichbare Qualitäten. Den Vorteil sehe ich auch hier darin, dass man nicht eine Infrastruktur am Leben hält, die hohe Betriebskosten produziert, sondern ein Format hat, das sich den Themen, Orten und Formen anpasst, die gerade notwendig und stimmig sind. Man macht nicht ein Programm für eine Bühne, sondern entwickelt eine Plattform für Inhalte und Ideen. Das Magazin «Obacht» oder die Novemberbegegnungen des Amts für Kultur, das sind weitere solcher Plattformen, die es ermöglichen, zu zeigen, wer da ist und was Kultur ausmacht – auch hier jeweils mit einem Schwerpunktthema. Die nächste «Obacht»-Ausgabe zum Beispiel wird dem Heimweh gewidmet sein, der «Appenzeller Krankheit», wie es früher hiess. Das Magazin erfindet sich immer neu: Die Redaktion wirft einen Stein ins Wasser und schaut, welche Ringe er zieht. Das passt sehr gut zu Ausserrhoden, weil wir so wechselnde Kunstschaffende einbinden und ihnen Sichtbarkeit verschaffen können.
Zugespitzt könnte man also sagen: Es braucht die Institutionen, die Häuser, die festen Infrastrukturen gar nicht? Oder vermissen Sie sie in Ausserrhoden trotzdem?
Es werden andere Dinge gesucht und erfunden. Kulturschaffende suchen sich ihre Wege, das zeigt sich auch an Orten, wo es starke Institutionen gibt – das Suchen ist Teil der Kultur. Das heisst nicht, dass es nicht auch Häuser braucht.
Bewegliche, nomadische Formen sind ja auch zeitgemäss.
Für Künstlerinnen und Künstler sind sie sehr attraktiv. Dem Publikum sind solche Formen hingegen schwerer zu vermitteln. Kultur in einem festen Haus ist präsenter, wird eher wahrgenommen. Auch die politischen Behörden schätzen es, wenn es «unser» Museum oder «unseren» Konzertsaal gibt. Das Nomadische, Graswurzelmässige ist schwieriger zu erkennen und einzuschätzen. Aber in Ausserrhoden ist das nun mal so. Klar: Ein Kunstmuseum wäre toll, es wäre auch ein Bekenntnis für die Wichtigkeit von Kunst – aber Künstlerinnen und Künstler würden trotzdem in St.Gallen oder in Zürich ausstellen und dort bestehen wollen.
Wenn Sie die Wahl für eine bestimmte Institution, für ein festes Haus hätten: Was müsste es in Ausserrhoden sein?
Ein Haus, wo gearbeitet wird, wo etwas entstehen kann: ein Werkhaus, bunt gemischt, für verschiedenste Menschen und Sparten. Ein Haus, wo es wuselt, wo sich Akteurinnen und Akteure begegnen.
Die meisten Leute verbinden das Appenzellerland vermutlich mit Musik – auch mit der Neuen Volksmusik, mit Namen wie Appenzeller Space Schöttl, Paul Giger, Patrick Kessler und anderen. Das ist ein Aushängeschild, innovativ und auch publikumsträchtig. Bräuchte es nicht dafür einen Ort?
In der Qualität ebenso hochstehend, aber weniger öffentlich wahrgenommen ist der Jazz, mit Markus Bischof, Fabian M. Müller, Claude Diallo, Reto Suhner, Gabriela Krapf und vielen anderen. Für die Erforschung der Volksmusik gibt es das Rothuus Gonten, ebenfalls ein überkantonal getragenes Projekt. Natürlich müssten in einem Werkhaus Musikerinnen und Musiker auch ihren Platz haben. Allerdings findet Musik ihre Bühnen leichter, sie ist mobil.
Den Plan für ein Werkhaus gibt es seit vielen Jahren. Die Anstrengungen waren bisher aber vergebens – warum?
Ein solches Haus muss ja getragen sein von Künstlerinnen und Künstlern. Und da wird der Prozess zum Problem: Es dauert zu lange, von dem Moment an, wo ein Objekt und eine interessierte Gruppe da ist, bis zum Zeitpunkt, wo es realisiert werden kann. Kunstschaffende wollen arbeiten – dauert es zu lange, suchen sie sich eben eine andere Möglichkeit. Und ist ein Objekt vorhanden, muss es erst einmal finanziert werden. Das sind langwierige Prozesse.
Ist das ein Wermutstropfen?
Ja, das ist schade. Es wäre mein Traum gewesen, dass eines Tages ein Mäzen kommt und sagt: Ich finde Euer Projekt für ein Werkhaus super, hier ist das Geld…! Solche Räumlichkeiten zu haben und dann zu schauen, was daraus entsteht, das hätte mich sehr interessiert, gerade aus der Erfahrung der Ledi: Was dort abgegangen ist, das war grossartig. Das Anliegen ist aber nicht weg, es ist nach wie vor ein Bedürfnis. Und ich bin weiterhin der Überzeugung, dass ein solches Haus nicht in der Stadt stehen muss, wo eh schon so vieles stattfindet und sich konzentriert.
Andrerseits: St.Gallen ist nun mal die Kulturhauptstadt von Appenzell Ausserrhoden.
Braucht Ausserrhoden eine Kulturhauptstadt? Ich glaube nicht. Manchmal ist es Berlin, dann wieder Zürich oder Feldkirch oder Schönengrund…
Margrit Bürer studierte Film und Soziale Arbeit, arbeitete in den Achtzigerjahren als Videoanimatorin und drehte Filme (u.a. 1988 den Dokumentarfilm «Noch führen die Wege an der Angst vorbei») und baute danach bei der Kulturstiftung Pro Helvetia den Bereich Programme auf. 2006 übernahm sie das neugeschaffene Amt für Kultur von Appenzell Ausserrhoden und prägte die kantonale Förderpolitik entscheidend mit. Daneben gehört sie zu den Initiantinnen der Stiftung Erbprozent Kultur.
Dennoch: St.Gallen ist der Durchmesserort, kulturell und auch vom öV her. Müsste man in der Kulturförderung nicht mehr zusammenarbeiten, über die Kantonsgrenzen hinweg?
Wir machen das schon sehr stark. Wir arbeiten bei der Vermittlungsplattform kklick zusammen, bei der Literaturförderung, bei der Textilkultur, beim Tanz. Die gemeinsame Werkschau «Heimspiel» ist ein weiteres Beispiel. Die Verbindungen sind eng. Solche Kooperationen bewähren sich bei Projekten, aber ich habe dann Bedenken, wenn Institutionen sich an einem Ort konzentrieren und viel Geld absaugen. Dann droht die Beweglichkeit, welche das Ausserrhoder Kulturleben auszeichnet, verloren zu gehen. Institutionen mit hohen Betriebskosten mitzufinanzieren, wäre der falsche Weg. Nicht umsonst ist in der Ausserrhoder Kulturförderung festgeschrieben, dass 30 bis 40 Prozent des Geldes in freie Projekte fliessen muss. Es ist wichtig, diesen Förder-Spielraum zu haben. Wenn man sich ihn verbaut, bleibt am Ende nichts mehr für die freie Szene.
Aber wenn St.Gallen ein solches Haus für die freie Szene schafft, wie es im neuen Kulturkonzept angedacht ist, dann müssten sich die Kantone doch beteiligen?
Nicht zwingend – nicht am Gebäude und am Betrieb, aber natürlich an Projekten, dann, wenn Kunstschaffende aus dem Kanton beteiligt sind. Ich bin ja ein freidenkender Mensch, aber bei solchen Fragen komme ich in ein gewisses Kantönligeist-Denken hinein – wir erleben das zum Beispiel bei Kunstschaffenden, die hier in Ausserrhoden aufgewachsen sind. Sobald sie in St.Gallen wohnen, heisst es: die «St.Galler» Autorin XY. Oder der «St.Galler» Tänzer und Kulturpreisträger Martin Schläpfer: Er ist auch ein Ausserrhoder. Und das kann dann zum Problem gegenüber der Politik werden: Wie will man argumentieren, dass es Geld für die Kulturförderung braucht, wenn ein grosser Teil des Geldes aus dem Kanton hinaus fliesst? Das Zeitgenössische, die Innovation, die den Kanton auszeichnet, geht in der Aussenwahrnehmung verloren. Am Ende assoziiert man mit dem Appenzellerland doch wieder einfach die Streichmusik.
Sie sind vor 14 Jahren trotz diesem volkstümlichen Image von der Stiftung Pro Helvetia zur Ausserrhoder Kulturförderung und von Zürich nach Herisau gekommen. Wie haben Sie das damals empfunden?
Damals wie heute: Dieses Bild ist so unausrottbar wie falsch. Und es nervt. Die Kulturinteressierten wissen inzwischen schon, dass es eine vielfältige inspirierende Szene gibt, mit den genannten Plattformen oder auch den Artist in Residence-Stipendien der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Dort funktioniert es ähnlich: Es fliesst kein Geld in den Unterhalt einer Wohnung am immergleichen Ort, sondern die Stipendiaten suchen und organisieren sich ihren Ort passend zur künstlerischen Notwendigkeit selber, von Island oder Finnland bis nach Berlin, London oder Brüssel. Die Ergebnisse sind grossartig.
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Szene aus Gemischte Beine – bewegte Gefühle der Choreografin und Artist-in-Residence-Stipendiatin Gisa Frank, inspiriert von den Berliner Tanzsälen. (Bild: pd)
Könnte man sagen: Je kleiner der Kanton, desto offener müssen seine Grenzen sein?
Im kleinen Kanton muss man den Blick aufmachen – übrigens auch schon nur nach Appenzell Innerrhoden. Roland Scotti, der Leiter des Kunsthauses in Appenzell, propagiert sein Haus ausdrücklich als Institution für beide Appenzell. Und er lebt das auch, lädt regelmässig Ausserrhoder ein oder zeigt aktuell die Ausstellung über die Heilerin und Malerin Emma Kunz. Dennoch hat es lange gedauert, bis die Künstlerinnen und Künstler in Ausserrhoden das Kunsthaus in Appenzell wahrgenommen haben. Auch sie schauen immer in die andere Richtung, nach St.Gallen.
Ist genug Geld da für die Kultur in Ausserrhoden?
Nein, es reicht nicht. Und nicht bloss wegen Corona. Wir haben seit Jahren keine Erhöhung der Kulturfördergelder, während die Zahl der Projekte sehr stark zunimmt. Zudem werden die Projekte grösser. Die Professionalität und die Ansprüche sind gestiegen. Andrerseits: Dass Projekte zahlreicher und grösser werden, ist auch ein Erfolg einer konsequenten Förderung. In anderen Bereichen würde man sagen: Super, wir haben Wachstum! Wer in der Wirtschaft mehr Umsatz macht, mehr Velos verkauft, mehr Brötchen backt, wird bejubelt. In der Kultur aber wird Wachstum zum Problem.
Weil die Ticketeinnahmen nicht ausreichen?
Der Grossteil der Projekte kann ohne Förderung nicht stattfinden. Der Aufwand kann durch die Eintrittspreise nicht eingespielt werden, und bei den vorhin beschriebenen nomadischen Strukturen gelingt das umso weniger.
Was ist im Rückblick auf 14 Jahre Ausserrhoder Kulturförderung für Sie das Wichtigste?
Die kulturelle Wertschätzung – das ist es, was ich aus vielen Rückmeldungen höre. Das hat sich stark verbessert, seit das Amt geschaffen wurde: dass man Künstlerinnen und Künstler aller Sparten wahrnimmt und wertschätzt. Und das ist auch bei den politischen Behörden angekommen.
Zu Ihrem Abschied vom Amt spielt jetzt Corona die erste Geige. Auf einen Schlag war Schluss mit Kultur…
…und da sieht man vieles plötzlich noch in einem neuen Licht. Zum Beispiel weist die grosse Zahl der Gesuche darauf hin, wie viele Kunstschaffende es in Ausserrhoden gibt. Und wir haben es auch mit Personen und Unternehmen zu tun, die bisher nie Fördergelder beantragt haben, weil sie selbsttragend arbeiten. Die Systemrelevanz der Kultur wird deutlicher denn je. All die Zulieferer, Dienstleisterinnen, Veranstalter zahlen Steuern, sie schaffen Arbeitsplätze, sie sind eine wirtschaftliche Grösse.
Wie geht die Corona-Geschichte aus für die Kultur?
Es wird eine Bereinigung geben. Deutlicher als zuvor haben wir gesehen, wie viele Kunstschaffende in prekären Einkommensverhältnissen leben. Da können die Hilfsmassnahmen nicht alles auffangen. Und dann gab es andere, die kein Gesuch stellten und sagten: Ich komme schon irgendwie über die Runden. Zudem entsteht Neues. Ich hoffe bloss, dass sich nicht zu viele kulturelle Aktivitäten aufs Netz verlagern, denn dies macht ja gerade die Kultur aus, dass man sich physisch trifft. Es kann insbesondere sein, dass einige Festivals aufgeben müssen; da herrschte ein Boom von Neugründungen in den letzten Jahren. Aber insgesamt denke ich nicht, dass weniger Kultur sein wird. Mit dem Kleinräumigen, Nomadischen ist Ausserrhoden im Grunde auf der richtigen, zukunftsträchtigen Seite.