Anfang der 1920er-Jahre erfasste eine antisemitische Welle die Schweiz. Sie entlud sich auch in St.Gallen, besonders im Aktionismus der Jahre 1923 bis 1925. Es kam in dieser Zeit gehäuft zu Beleidigungen, Drohungen und körperlicher Gewalt gegen jüdische Einwohner:innen der Stadt. Vier junge Burschen rempelten im Frühling 1924 auf der Plattform des Stadttrams einen jüdischen Kaufmann an und beschimpften kurz darauf in einem Waggon derselben Linie einen Fahrgast als «fetten Saujuden». Später am Abend klingelten sie den Mann aus seinem Haus und riefen, er solle herunterkommen, sie seien «Hakenkreuzler». Einen Tag später flog während des freitäglichen Gebets ein Stein durch die Fensterscheibe der St.Galler Synagoge.
Auch im nationalen Schienenverkehr, in Restaurants und anderswo im öffentlichen Raum kam es immer wieder zu antisemitischen Ausfälligkeiten und Übergriffen. Der Wirt des Hotels und Restaurants «Bürgerhof» (ab 1950: «Im Portner») kündigte auf einer Tafel an, keine jüdischen Gäste zu bewirten. Im Herbst 1923 wurden an diversen Schaufenstern in der Innenstadt Zettel mit der Aufforderung «Kauft nichts bei Juden!» aufgehängt.
Die «Christenwehr» und der Freisinn
Diese und viele weitere dokumentierte Vorfälle waren oft nicht orchestriert und liessen sich somit keiner bestimmten Gruppierung anrechnen. Sie waren eher Ausdruck eines allgemeinen «antisemitischen Trends», wie Historiker Thomas Metzger in seinem Buch Antisemitismus in der Stadt St.Gallen 1918–1939 schreibt. Doch einige Aktionen der 1920er-Jahre lassen sich sehr wohl einer Organisation zuschreiben, einer Vereinigung, die bislang nur in St.Gallen nachgewiesen ist: Die katholisch geprägte «Schweizer Christenwehr».
1923 und 1924 kam es in St.Gallen zu antisemitischer Hetze im Zuge verschiedener Wahlen. Während der Bezirksrichterwahl wurde ein Flugblatt gegen den jüdischen Kandidaten Isaak Wohlgemut verbreitet. Obwohl alle Kandidaten auf einer überparteilichen Einheitsliste standen, erhielt er 600 Stimmen weniger als die anderen. Stefan Stauber, ein führendes Mitglied der «Schweizer Christenwehr», wurde später für die Flugblattaktion zu einer Geldstrafe verurteilt.
Vor den Kantonsratswahlen im März 1924 kursierten ein geschmackloses Gedicht mit Anspielungen auf die jüdische Beschneidung sowie ein Flugblatt mit der Aufforderung, keine Juden zu wählen. Dies richtete sich besonders gegen den freisinnigen Kandidaten Henry Reichenbach, der prompt nicht gewählt wurde, obwohl er überparteiliche Unterstützung genoss. Auch ein Viertel der freisinnigen Wähler stimmte gegen ihn. Ein direkter Zusammenhang mit der «Christenwehr» konnte nicht nachgewiesen werden, eine Hausdurchsuchung bei Stauber blieb ergebnislos.


Zwei Monate später, vor den Gemeinderatswahlen, liess die «Schweizer Christenwehr – Gruppe St.Gallen» ein Plakat drucken, das mehrfach die Parole «Keinem Juden eine Stimme» enthielt. Ein Grossteil wurde auf Anweisung des freisinnigen Stadtammanns Eduard Scherrer konfisziert, doch einige Exemplare gelangten in Umlauf. Als Reaktion liess die «Christenwehr» ein nahezu identisches Flugblatt drucken, auf dem sie die Konfiskation als Beweis für jüdischen Einfluss auf den Freisinn darstellte. Die Polizei stoppte auch diesen Druck, doch ein Teil wurde per Post verbreitet.
Saly Mayer, gegen den sich die Plakataktion explizit gerichtet hatte, wurde schliesslich wiedergewählt, erhielt aber deutlich weniger Stimmen als seine Parteikollegen. Wiederum hatte rund ein Viertel der freisinnigen Wähler ihn gezielt von der Liste gestrichen. Die «Christenwehr» reichte eine Beschwerde gegen die Plakatkonfiskation ein, doch sowohl die Kantonsregierung als auch das Bundesgericht wiesen die Beschwerde ab.
Kurz darauf gab Schulvorstand Carl Reichenbach (FDP) bekannt, nicht erneut für den Stadtrat zu kandidieren. Aufgrund der zunehmend antisemitisch geprägten Stimmung rechnete er sich kaum noch Chancen aus. Bereits zuvor hatte die katholisch-konservative Tageszeitung «Die Ostschweiz» nach der Nichtwahl von Henry Reichenbach in den Kantonsrat süffisant angemerkt, dass dies ein «Merkmax für den namensgleichen Schulvorstand» sei.
Der Flade-Rektor und die Rassenfrage
Wichtigster geistiger Anführer der «Christenwehr» war Josef Böni (1895–1974). Er stammte aus dem Toggenburg, war in streng katholischem Umfeld aufgewachsen, wurde in jungen Jahren zum Domvikar in St.Gallen und mit 24 auf Vorschlag des Bischofs zum Rektor der Katholischen Kantonssekundarschule (Flade). Er war in den 1920er-Jahren einer der einflussreichsten Antisemiten in St.Gallen, der antijudaistische und antifreimaurerische Weltverschwörungstheorien verbreitete.
Obschon er die katholische Theologie über andere Kategorien wie Rasse und Nation stellte, argumentierte er rassistisch. Indem er die katholische Idee der Unmoral gegenüberstellte und die Unmoral als dem Judentum innewohnend erachtete, kam er in einem Artikel, den die «Ostschweiz» an Heiligabend 1923 veröffentlichte, zum Schluss: «Antisemitismus so aufgefasst ist nicht nur sittlich erlaubt, sondern pflichtgemäss.» Die Furcht vor einer jüdischen Weltverschwörung, vor wirtschaftlicher, kultureller und sittlicher Zersetzung der Gesellschaft und der Vorwurf der jüdischen Feindschaft gegen das Christentum bildeten auch die ideologischen Grundpfeiler der «Christenwehr».

Josef Böni (1895–1974), anfangs der 1920er-Jahre Flade-Rektor, später zum Protestantismus konvertiert
Böni weist in seiner Biografie ein paar bemerkenswerte Hakenschläge auf. Schon 1926 konvertierte er zum Protestantismus, heiratete und kehrte später wieder als Pfarrer in Trogen in die Ostschweiz zurück. Zudem war er, der Antifreimauerer von einst, jetzt Mitglied der Freimaurer-Loge «Concordia». Seine Mitgliedschaft in der «Christenwehr» und seine führende Position darin verschwieg er in seiner Autobiografie von 1966.
Gemäss Historiker Thomas Metzger bewegten sich rassenantisemitisch argumentierende Exponenten wie Josef Böni oder beispielsweise die Rorschacher Brüder Carl und Fridolin Weder mit ihrer rechtsextremistischen «Katholischen Front» mehr oder weniger bewusst ausserhalb des Koordinatensystems jenes «theologisch» begründeten Antijudaismus, der im katholischen Milieu dieser Jahrzehnte Alltag war. Allerdings sei Böni aufgrund seiner Stellung als Rektor eben doch eine einflussreiche Person gewesen.
Die Osterliturgie und der Bischof
Fester Bestandteil der traditionellen Osterliturgie war damals der sogenannte Gottesmord-Vorwurf, also die Ansicht, dass das Judentum eine Kollektivschuld an der Ermordung Jesu trage. Diese Haltung vertrat auch der St.Galler Bischof Alois Scheiwiler (1872–1938), zum Beispiel in einer Radiopredigt 1931. Scheiwiler war zwar der einzige Bischof der Schweiz, der Mitte der 30er-Jahre dezidiert Stellung bezog gegen den «Rassenwahn» in Deutschland. Man gedenkt ihm heute lieber als «Arbeiterpfarrer» und einem der wichtigsten Mitbegründer der christlich-sozialen Bewegung der Schweiz oder auch als Flüchtlingshelfer. Doch finden sich auch in seinem umfangreichen Werk Schriften, in denen er antisemitische Verschwörungserzählungen ausbreitete. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass sich das Bild eines global agierenden «Judentums als Weltkollektiv» im St.Galler Katholizismus verankerte.
Seine Rückgriffe auf «heilsgeschichtliche» Zusammenhänge zwischen Christentum und Judentum sind auch bei Scheiwiler eng verbunden mit dem Gottesmord-Vorwurf. In dieser Logik ist die Erlösung an die finale Konversion aller Menschen jüdischen Glaubens zum Christentum geknüpft. Scheiwiler stellte sich zwar gegen den Rassenantisemitismus, wie ihn der Nationalsozialismus verstand, untermauerte seine Theologie dennoch mit antisemitischen Elementen. «Freisinn, Freimaurerei, Sozialismus, Bolschewismus ist den Juden nur Mittel zum Zweck der jüdischen Weltherrschaft», schrieb Scheiwiler 1920 in seinem Aufsatz Der gegenwärtige Stand des Sozialismus. Und weiter: «Der Geist des Judentums ist Selbstsucht in Reinkultur. (...) Bühne, Börse, Presse und Staatsgesetz sind heute in ihren Händen.»

Alois Scheiwiler (1872–1938), hier im Bild noch als junger «Arbeiterpfarrer», ab 1930 Bischof von St.Gallen
Hier verbanden sich in idealtypischer Weise antimodernistische mit antisozialistischen, antiliberalistischen und antisemitischen Ansichten, wie sie im politischen Katholizismus damals gängig waren. Auch zeigte sich Bischof Scheiwiler den Ideen eines autoritären Ständestaates, wie ihn etwa der italienische Faschismus propagierte, nicht abgeneigt. Dieser sah eine nach dem Führerprinzip organisierte und nach Berufsständen gegliederte Gesellschaftsordnung vor, in dem auch der Kirche (wieder) eine staatstragende Rolle zukommen sollte. Mehrmals nahm Scheiwiler in den 30er-Jahren an Versammlungen der «Ostschweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Errichtung einer berufsständischen Ordnung» teil, die zweimal auch im Kantonsratssaal in der Pfalz abgehalten wurden.
Der Chefredaktor und die Frontisten
In der Abkehr von der freiheitlich-demokratischen Ordnung hin zu einem ständestaatlich-autoritären System fand der Katholizismus immer wieder Anknüpfungspunkte zu den schweizerischen Frontenbewegungen. Diese Erneuerungsbewegungen standen unter dem Eindruck der «Erfolge» nationalsozialistischer Politik. Sie waren nach antimodernistischem Verständnis aber nicht umstürzlerisch, wie man es etwa dem «verjudeten» Bolschewismus vorwarf, sondern sollten lediglich die Gesellschaftsordnung des Ancien Régime wiederherstellen und die bürgerlichen Revolutionen von 1789 und 1848 rückgängig machen.
In solchen Gedankengebäuden bewegte sich besonders eifrig auch der Rorschacher Historiker und Jurist Carl Doka (1896–1980), der als Redaktor für zahlreiche katholisch-konservativ geprägte Titel schrieb und von 1932 bis 1946 als Chefredaktor der «Ostschweiz» wirkte. Auch er teilte Scheiwilers Glauben an eine jüdische Unterwanderung des internationalen Pressewesens. Der Jude bleibe in seinem Wirtsvolk vielfach ein Fremdkörper, und ausserdem sei er von Natur aus international, schrieb Doka im Sinn des damaligen Überfremdungsdiskurses. Und auch er hegte anfänglich – und noch dezidierter als Bischof Scheiwiler – Sympathien für die frontistischen Erneuerungsbewegungen, in welchen er «Kräfte positiven Aufbaus» erkannte.
Als es brodelte im Frontenfrühling 1933, hielt er vor der «Katholischen Jungmannschaft St.Gallen C» ein Referat und freute sich über das vermeintlich anstehende Ende des «liberalen Systems» sowie des Marxismus. Zur selben Zeit publizierten die St.Galler Jungkonservativen, eine Gruppe aktiver junger Katholiken, einen Forderungskatalog in der «Ostschweiz», der sich in fast allen Punkten mit den Forderungen der Fronten deckte.
Im August 1933 fand in Zug eine nationale katholische Jungmannschaftstagung statt, die nicht nur deshalb an die Hitlerjugend erinnerte, weil sich alle rund 20'000 Teilnehmenden gleich kleideten. Doka, der selber vor Ort war, war entzückt: «Die Periode der Massen und die Tage der autoritären Führung sind angebrochen. Man fühlt es, dass die katholische Jugend sich unterordnen will und Leitung entgegennimmt.»

Carl Doka (1896–1980), von 1932 bis 1946 Chefredaktor der katholisch-konservativen «Die Ostschweiz»
Man reibt sich die Augen, wenn man heute den Nachruf auf Carl Doka liest. «Seine ‹St.Galler Periode› fiel zusammen mit dem ‹Tausendjährigen Reich›», schrieb Klaus Ammann 1980 in der «Ostschweiz». «Nazismus und Frontismus fanden in C.D. einen unerbittlichen journalistischen Widersacher.»
Vergleicht man die St.Galler Tagespresse der 1920er- und 30er-Jahre, finden sich die meisten antisemitischen Texte in der «Ostschweiz». Personen wie Josef Böni, Alois Scheiwiler und Carl Doka oder auch der «Ostschweiz»-Redaktor und spätere Luzerner Nationalrat Karl Wick prägten diesen Diskurs. Antisemitische Stereotypen lassen sich aber auch in politisch anders ausgerichteten Blättern nachweisen. Beispielsweise im Zusammenhang mit der Konfiskation der unbestritten antisemitischen Plakate der «Schweizer Christenwehr» 1924 war im freisinnigen «St.Galler Tagblatt» von einem «ungerechtfertigten Eingriff in die Meinungsfreiheit» zu lesen. Und sogar die sozialdemokratische «Volksstimme» fragte: «Ist der Freisinn so verjudet, dass er das (die antisemitischen Flugblätter, Anm. d. Red.) nicht mehr erträgt?»
Die evangelischen Pfarrer und die Nazis
Auch politisch fand vor allem der katholische Konservatismus immer wieder Anknüpfungspunkte an den Nationalsozialismus und an die schweizerischen Fronten. Auf Abstand ging man erst, als sich in Deutschland der Konflikt zwischen NS-Regime und Kirche anbahnte. Reichsnähe war allerdings kein rein katholisches Phänomen. Beispielsweise nahmen 1933 an der erwähnten Versammlung der «Ostschweizerischen Arbeitsgemeinschaft für die Errichtung einer berufsständischen Ordnung» auch einige Nichtkatholiken teil, etwa der Nationalrat und Gewerbeverbandspräsident August Schirmer oder der Präsident der evangelischen Arbeiter und Angestellten, ein «Herr Christen».
Der evangelische St.Galler Pfarrer Werner Wirth (1886–1961), der von 1932 bis zu seiner Suspendierung 1940 im werdenbergischen Azmoos predigte, blieb in seiner Radikalität ein Randphänomen. 1920 forderte er noch als SP-Mitglied den Eintritt der Partei in die Dritte Internationale; 1931 trat er selber der elitären Frontistenbewegung «Neue Front» bei und verfasste in den 30er-Jahren Texte wie Kampfgebet und Der Deutsche Seher. 1942 reiste er nach Deutschland aus, arbeitete für den «Volksbund für das Deutschtum im Ausland» und leitete 1944/45 das Oberdeutsche Arbeitsbüro. Nach Kriegsende kehrte er in die Schweiz zurück. Er wurde wegen illegaler Ausreise und Landesverrats verurteilt, 1952 aber begnadigt.
Spätestens als sich nach Stalingrad das Blatt im Zweiten Weltkrieg zu Ungunsten der Achsenmächte wendete, begannen die deutschfreundlichen Stimmen auch in St.Gallen allmählich zu verstummen, wenn sie nicht ohnehin schon verstummt waren (Bischof Scheiwiler starb 1938). Und nach Kriegsende wollte kaum jemand noch irgendwie den Verdacht erwecken, man habe sich einst auf die «falsche» Seite gestellt. Es blieb an den nachfolgenden Journalist:innen und Historiker:innen, aufzuzeigen, wo allfällige Kontinuitäten bestanden oder wo altes Gedankengut unter den Teppich gekehrt wurde, wie dies beispielhaft im Nachruf auf Carl Doka geschah.
1979 veröffentlichte der Herisauer Journalist Jürg Frischknecht mit drei Kollegen das aufsehenerregende Nachschlagewerk Die unheimlichen Patrioten, in dem sie über 1000 Rechte und Rechtsextreme in der Schweiz sowie deren Aktivitäten auflisteten. Darunter figurierte auch Gerd Zikeli, ein 1937 in Siebenbürgen geborener evangelischer Pfarrer, der ab 1968 in Stallikon ZH und ab 1976 in St.Gallen-Bruggen predigte. Nach aussen hin ein gemässigter Gottesmann, war Zikeli insgeheim auch ein begeisterter Nationalsozialist und Antisemit der Nachkriegsgeneration. Erst die Recherchen Frischknechts und seiner Kollegen förderten Zikelis Aktivitäten in der rechten Zürcher Burschenschaft «Arminia» und in der 1974 davon abgespaltenen rechtsextremen «Nationalen Basis Schweiz» zutage.
Einige Monate nach seinem unfreiwilligen Outing gab Zikeli dem Schweizer Fernsehen ein Interview. Nach seiner Haltung zur Shoa befragt, behauptete er, dass es auf dem Gebiet des Deutschen Reichs nie Vernichtungslager gegeben habe. Der Journalist hakte nach: «Aber in Polen?» Zikeli antwortet zögerlich: «Es wird behauptet ...» Seine medialen und juristischen Verteidigungsversuche scheiterten. Die Stimmberechtigten der Kirchgemeinde St.Gallen-West fällten ihr Verdikt und beriefen ihren Pfarrer an der Gemeindeversammlung im Februar 1980 diskussionslos mit 1072:39 Stimmen ab.