Kruzifix und Hakenkreuz

Fladerektor Josef Böni, «Ostschweiz»-Chefredaktor Carl Doka und Bischof Alois Scheiwiler gehörten zu den prominentesten Verbreitern antisemitischer Ansichten im St.Galler Katholizismus. (Bilder: div. Archive / Collage: DOME)

Antisemitische und NS-freundliche Tendenzen waren in St.Gallen besonders im katholischen Milieu verbreitet – aber nicht ausschliesslich. Ein reformierter Werdenberger Pfarrer reiste 1942 illegal nach Deutschland, um dort zu arbeiten.

An­fang der 1920er-Jah­re er­fass­te ei­ne an­ti­se­mi­ti­sche Wel­le die Schweiz. Sie ent­lud sich auch in St.Gal­len, be­son­ders im Ak­tio­nis­mus der Jah­re 1923 bis 1925. Es kam in die­ser Zeit ge­häuft zu Be­lei­di­gun­gen, Dro­hun­gen und körper­li­cher Ge­walt ge­gen jüdi­sche Ein­woh­ner:in­nen der Stadt. Vier jun­ge Bur­schen rem­pel­ten im Frühling 1924 auf der Platt­form des Stadt­trams ei­nen jüdi­schen Kauf­mann an und be­schimpf­ten kurz dar­auf in ei­nem Wag­gon der­sel­ben Li­nie ei­nen Fahr­gast als «fet­ten Sau­ju­den». Später am Abend klin­gel­ten sie den Mann aus sei­nem Haus und rie­fen, er sol­le her­un­ter­kom­men, sie sei­en «Ha­ken­kreuz­ler». Ei­nen Tag später flog während des frei­tägli­chen Ge­bets ein Stein durch die Fens­ter­schei­be der St.Gal­ler Syn­ago­ge.

Auch im na­tio­na­len Schie­nen­ver­kehr, in Re­stau­rants und an­ders­wo im öffent­li­chen Raum kam es im­mer wie­der zu an­ti­se­mi­ti­schen Aus­fällig­kei­ten und Überg­rif­fen. Der Wirt des Ho­tels und Re­stau­rants «Bürger­hof» (ab 1950: «Im Port­ner») kündig­te auf ei­ner Ta­fel an, kei­ne jüdi­schen Gäste zu be­wir­ten. Im Herbst 1923 wur­den an di­ver­sen Schau­fens­tern in der In­nen­stadt Zet­tel mit der Auf­for­de­rung «Kauft nichts bei Ju­den!» auf­ge­hängt.

Die «Chris­ten­wehr» und der Frei­sinn

Die­se und vie­le wei­te­re do­ku­men­tier­te Vor­fälle wa­ren oft nicht or­ches­triert und lies­sen sich so­mit kei­ner be­stimm­ten Grup­pie­rung an­rech­nen. Sie wa­ren eher Aus­druck ei­nes all­ge­mei­nen «an­ti­se­mi­ti­schen Trends», wie His­to­ri­ker Tho­mas Metz­ger in sei­nem Buch An­ti­se­mi­tis­mus in der Stadt St.Gal­len 1918–1939 schreibt. Doch ei­ni­ge Ak­tio­nen der 1920er-Jah­re las­sen sich sehr wohl ei­ner Or­ga­ni­sa­ti­on zu­schrei­ben, ei­ner Ver­ei­ni­gung, die bis­lang nur in St.Gal­len nach­ge­wie­sen ist: Die ka­tho­lisch ge­prägte «Schwei­zer Chris­ten­wehr».

1923 und 1924 kam es in St.Gal­len zu an­ti­se­mi­ti­scher Het­ze im Zu­ge ver­schie­de­ner Wah­len. Während der Be­zirks­rich­ter­wahl wur­de ein Flug­blatt ge­gen den jüdi­schen Kan­di­da­ten Isaak Wohl­ge­mut ver­brei­tet. Ob­wohl al­le Kan­di­da­ten auf ei­ner über­par­tei­li­chen Ein­heits­lis­te stan­den, er­hielt er 600 Stim­men we­ni­ger als die an­de­ren. Ste­fan Stau­ber, ein führen­des Mit­glied der «Schwei­zer Chris­ten­wehr», wur­de später für die Flug­blatt­ak­ti­on zu ei­ner Geld­stra­fe ver­ur­teilt.

Vor den Kan­tons­rats­wah­len im März 1924 kur­sier­ten ein ge­schmack­lo­ses Ge­dicht mit An­spie­lun­gen auf die jüdi­sche Be­schnei­dung so­wie ein Flug­blatt mit der Auf­for­de­rung, kei­ne Ju­den zu wählen. Dies rich­te­te sich be­son­ders ge­gen den frei­sin­ni­gen Kan­di­da­ten Hen­ry Rei­chen­bach, der prompt nicht ge­wählt wur­de, ob­wohl er über­par­tei­li­che Un­ter­stützung ge­noss. Auch ein Vier­tel der frei­sin­ni­gen Wähler stimm­te ge­gen ihn. Ein di­rek­ter Zu­sam­men­hang mit der «Chris­ten­wehr» konn­te nicht nach­ge­wie­sen wer­den, ei­ne Haus­durch­su­chung bei Stau­ber blieb er­geb­nis­los.

Zwei Mo­na­te später, vor den Ge­mein­de­rats­wah­len, liess die «Schwei­zer Chris­ten­wehr – Grup­pe St.Gal­len» ein Pla­kat dru­cken, das mehr­fach die Pa­ro­le «Kei­nem Ju­den ei­ne Stim­me» ent­hielt. Ein Gross­teil wur­de auf An­wei­sung des frei­sin­ni­gen Stadt­am­manns Edu­ard Scher­rer kon­fis­ziert, doch ei­ni­ge Ex­em­pla­re ge­lang­ten in Um­lauf. Als Re­ak­ti­on liess die «Chris­ten­wehr» ein na­he­zu iden­ti­sches Flug­blatt dru­cken, auf dem sie die Kon­fis­ka­ti­on als Be­weis für jüdi­schen Ein­fluss auf den Frei­sinn dar­stell­te. Die Po­li­zei stopp­te auch die­sen Druck, doch ein Teil wur­de per Post ver­brei­tet.

Sa­ly May­er, ge­gen den sich die Pla­kat­ak­ti­on ex­pli­zit ge­rich­tet hat­te, wur­de schliess­lich wie­der­ge­wählt, er­hielt aber deut­lich we­ni­ger Stim­men als sei­ne Par­tei­kol­le­gen. Wie­der­um hat­te rund ein Vier­tel der frei­sin­ni­gen Wähler ihn ge­zielt von der Lis­te ge­stri­chen. Die «Chris­ten­wehr» reich­te ei­ne Be­schwer­de ge­gen die Pla­kat­kon­fis­ka­ti­on ein, doch so­wohl die Kan­tons­re­gie­rung als auch das Bun­des­ge­richt wie­sen die Be­schwer­de ab.

Kurz dar­auf gab Schul­vor­stand Carl Rei­chen­bach (FDP) be­kannt, nicht er­neut für den Stadt­rat zu kan­di­die­ren. Auf­grund der zu­neh­mend an­ti­se­mi­tisch ge­prägten Stim­mung rech­ne­te er sich kaum noch Chan­cen aus. Be­reits zu­vor hat­te die ka­tho­lisch-kon­ser­va­ti­ve Ta­ges­zei­tung «Die Ost­schweiz» nach der Nicht­wahl von Hen­ry Rei­chen­bach in den Kan­tons­rat süffi­sant an­ge­merkt, dass dies ein «Merk­max für den na­mens­glei­chen Schul­vor­stand» sei.

Der Fla­de-Rek­tor und die Ras­sen­fra­ge

Wich­tigs­ter geis­ti­ger An­führer der «Chris­ten­wehr» war Jo­sef Böni (1895–1974). Er stamm­te aus dem Tog­gen­burg, war in streng ka­tho­li­schem Um­feld auf­ge­wach­sen, wur­de in jun­gen Jah­ren zum Dom­vi­kar in St.Gal­len und mit 24 auf Vor­schlag des Bi­schofs zum Rek­tor der Ka­tho­li­schen Kan­tons­se­kun­dar­schu­le (Fla­de). Er war in den 1920er-Jah­ren ei­ner der ein­fluss­reichs­ten An­ti­se­mi­ten in St.Gal­len, der an­ti­ju­da­is­ti­sche und an­ti­frei­mau­re­ri­sche Welt­ver­schwörungs­theo­rien ver­brei­te­te.

Begriffsklärung

Als An­ti­se­mi­tis­mus be­zeich­net man all­ge­mein sämt­li­che For­men von Ju­den­hass und Ju­den­feind­lich­keit. Der An­ti­ju­da­is­mus ist ei­ne re­li­giös-theo­lo­gisch mo­ti­vier­te Va­ri­an­te des An­ti­se­mi­tis­mus, ein Phäno­men, das sich durch die ge­sam­te christ­li­che Kir­chen­ge­schich­te zieht. Der Ras­sen­an­ti­se­mi­tis­mus de­fi­niert das Ju­den­tum kol­lek­tiv als völkisch-bio­lo­gis­tisch ein­heit­li­che und min­der­wer­ti­ge Ras­se. Es gibt vie­le wei­te­re For­men wie den kul­tu­rel­len oder den so­zioöko­no­mi­schen An­ti­se­mi­tis­mus, die den an­geb­lich schädli­chen Ein­fluss des als glo­bal agie­ren­de Ein­heit ge­dach­ten Ju­den­tums auf be­stimm­te ge­sell­schaft­li­che Le­bens­be­rei­che be­to­nen. Die ver­schie­de­nen For­men von An­ti­se­mi­tis­mus be­stan­den sel­ten se­pa­riert von­ein­an­der und ver­ban­den sich im Lauf der Ge­schich­te im­mer wie­der neu. (hrt)

Ob­schon er die ka­tho­li­sche Theo­lo­gie über an­de­re Ka­te­go­rien wie Ras­se und Na­ti­on stell­te, ar­gu­men­tier­te er ras­sis­tisch. In­dem er die ka­tho­li­sche Idee der Un­mo­ral ge­genüber­stell­te und die Un­mo­ral als dem Ju­den­tum in­ne­woh­nend er­ach­te­te, kam er in ei­nem Ar­ti­kel, den die «Ost­schweiz» an Hei­lig­abend 1923 veröffent­lich­te, zum Schluss: «An­ti­se­mi­tis­mus so auf­ge­fasst ist nicht nur sitt­lich er­laubt, son­dern pflicht­gemäss.» Die Furcht vor ei­ner jüdi­schen Welt­ver­schwörung, vor wirt­schaft­li­cher, kul­tu­rel­ler und sitt­li­cher Zer­set­zung der Ge­sell­schaft und der Vor­wurf der jüdi­schen Feind­schaft ge­gen das Chris­ten­tum bil­de­ten auch die ideo­lo­gi­schen Grund­pfei­ler der «Chris­ten­wehr».

Josef Böni (1895–1974), anfangs der 1920er-Jahre Flade-Rektor, später zum Protestantismus konvertiert

Böni weist in sei­ner Bio­gra­fie ein paar be­mer­kens­wer­te Ha­ken­sch­läge auf. Schon 1926 kon­ver­tier­te er zum Pro­tes­tan­tis­mus, hei­ra­te­te und kehr­te später wie­der als Pfar­rer in Tro­gen in die Ost­schweiz zu­rück. Zu­dem war er, der An­ti­frei­maue­rer von einst, jetzt Mit­glied der Frei­mau­rer-Lo­ge «Con­cor­dia». Sei­ne Mit­glied­schaft in der «Chris­ten­wehr» und sei­ne führen­de Po­si­ti­on dar­in ver­schwieg er in sei­ner Au­to­bio­gra­fie von 1966.

Gemäss His­to­ri­ker Tho­mas Metz­ger be­weg­ten sich ras­sen­an­ti­se­mi­tisch ar­gu­men­tie­ren­de Ex­po­nen­ten wie Jo­sef Böni oder bei­spiels­wei­se die Ror­scha­cher Brüder Carl und Fri­do­lin We­der mit ih­rer rechts­extre­mis­ti­schen «Ka­tho­li­schen Front» mehr oder we­ni­ger be­wusst aus­ser­halb des Ko­or­di­na­ten­sys­tems je­nes «theo­lo­gisch» be­gründe­ten An­ti­ju­da­is­mus, der im ka­tho­li­schen Mi­lieu die­ser Jahr­zehn­te All­tag war. Al­ler­dings sei Böni auf­grund sei­ner Stel­lung als Rek­tor eben doch ei­ne ein­fluss­rei­che Per­son ge­we­sen.

Die «Katholische Front»

Ei­ne der vie­len kurz­le­bi­gen Fron­ten im so­ge­nann­ten «Fron­ten­frühling» 1933 war die «Ka­tho­li­sche Front», die fast aus­schliess­lich in der Ost­schweiz ak­tiv war. Ge­gründet wur­de sie von den Brüdern Carl und Fri­do­lin We­der aus Ror­schach. Die bei­den ga­ben seit 1929 die rechts­na­tio­na­lis­ti­sche Zei­tung «Das Neue Volk» her­aus und fun­gier­ten als «Führer» der «Ka­tho­li­schen Front», die ihr Zen­trum in St.Gal­len hat­te. Dort gründe­ten sich in den Quar­tie­ren St.Ot­mar und St.Ge­or­gen so­wie in di­ver­sen Ge­mein­den im gan­zen Kan­ton St.Gal­len und in Ap­pen­zell In­ner­rho­den wei­te­re «Zel­len».

Die­sen Zel­len über­ge­ord­net wur­de bald der «Gau St.Gal­len» aus­ge­ru­fen und dem «Gau­lei­ter» Hein­rich Metz­ler un­ter­stellt, ei­nem aus Deutsch­land zu­ge­wan­der­ten Her­aus­ge­ber ei­nes an­ti­frei­mau­re­ri­schen und an­ti­se­mi­ti­schen In­for­ma­ti­ons­blat­tes und aus­ser­dem Trau­zeu­ge von Carl We­der. Metz­ler pfleg­te Kon­tak­te zu nam­haf­ten Na­tio­nal­so­zia­lis­ten in Deutsch­land und der Schweiz. So­wohl die Ge­brüder We­der als auch Metz­ler ver­brei­te­ten in ih­ren Pres­se­er­zeug­nis­sen ra­di­ka­le welt­ver­schwöre­ri­sche, an­ti­se­mi­ti­sche The­sen und be­zeich­ne­ten die Frei­mau­re­rei als «Syn­ago­ge Sa­tans».

Zur «Tat» schritt die «Ka­tho­li­sche Front» nie, sie blieb bis zu ih­rem Ver­schwin­den En­de 1933 ein rein «geis­tig-mi­li­tan­tes» Or­gan des Blatts «Das Neue Volk», das noch bis 1957 er­schien. (hrt)

Die Os­ter­lit­ur­gie und der Bi­schof

Fes­ter Be­stand­teil der tra­di­tio­nel­len Os­ter­lit­ur­gie war da­mals der so­ge­nann­te Got­tes­mord-Vor­wurf, al­so die An­sicht, dass das Ju­den­tum ei­ne Kol­lek­tiv­schuld an der Er­mor­dung Je­su tra­ge. Die­se Hal­tung ver­trat auch der St.Gal­ler Bi­schof Alo­is Schei­wi­ler (1872–1938), zum Bei­spiel in ei­ner Ra­dio­pre­digt 1931. Schei­wi­ler war zwar der ein­zi­ge Bi­schof der Schweiz, der Mit­te der 30er-Jah­re de­zi­diert Stel­lung be­zog ge­gen den «Ras­sen­wahn» in Deutsch­land. Man ge­denkt ihm heu­te lie­ber als «Ar­bei­ter­pfar­rer» und ei­nem der wich­tigs­ten Mit­be­gründer der christ­lich-so­zia­len Be­we­gung der Schweiz oder auch als Flücht­lings­hel­fer. Doch fin­den sich auch in sei­nem um­fang­rei­chen Werk Schrif­ten, in de­nen er an­ti­se­mi­ti­sche Ver­schwörungs­er­zählun­gen aus­brei­te­te. Sie tru­gen we­sent­lich da­zu bei, dass sich das Bild ei­nes glo­bal agie­ren­den «Ju­den­tums als Welt­kol­lek­tiv» im St.Gal­ler Ka­tho­li­zis­mus ver­an­ker­te.

Sei­ne Rück­grif­fe auf «heils­ge­schicht­li­che» Zu­sam­men­hänge zwi­schen Chris­ten­tum und Ju­den­tum sind auch bei Schei­wi­ler eng ver­bun­den mit dem Got­tes­mord-Vor­wurf. In die­ser Lo­gik ist die Er­lösung an die fi­na­le Kon­ver­si­on al­ler Men­schen jüdi­schen Glau­bens zum Chris­ten­tum ge­knüpft. Schei­wi­ler stell­te sich zwar ge­gen den Ras­sen­an­ti­se­mi­tis­mus, wie ihn der Na­tio­nal­so­zia­lis­mus ver­stand, un­ter­mau­er­te sei­ne Theo­lo­gie den­noch mit an­ti­se­mi­ti­schen Ele­men­ten. «Frei­sinn, Frei­mau­re­rei, So­zia­lis­mus, Bol­sche­wis­mus ist den Ju­den nur Mit­tel zum Zweck der jüdi­schen Welt­herr­schaft», schrieb Schei­wi­ler 1920 in sei­nem Auf­satz Der ge­gen­wärti­ge Stand des So­zia­lis­mus. Und wei­ter: «Der Geist des Ju­den­tums ist Selbst­sucht in Rein­kul­tur. (...) Bühne, Börse, Pres­se und Staats­ge­setz sind heu­te in ih­ren Händen.»

Alois Scheiwiler (1872–1938), hier im Bild noch als junger «Arbeiterpfarrer», ab 1930 Bischof von St.Gallen

Hier ver­ban­den sich in ide­al­ty­pi­scher Wei­se an­ti­mo­der­nis­ti­sche mit an­ti­so­zia­lis­ti­schen, an­ti­li­be­ra­lis­ti­schen und an­ti­se­mi­ti­schen An­sich­ten, wie sie im po­li­ti­schen Ka­tho­li­zis­mus da­mals gängig wa­ren. Auch zeig­te sich Bi­schof Schei­wi­ler den Ideen ei­nes au­to­ri­tären Stände­staa­tes, wie ihn et­wa der ita­lie­ni­sche Fa­schis­mus pro­pa­gier­te, nicht ab­ge­neigt. Die­ser sah ei­ne nach dem Führer­prin­zip or­ga­ni­sier­te und nach Be­rufss­tänden ge­glie­der­te Ge­sell­schafts­ord­nung vor, in dem auch der Kir­che (wie­der) ei­ne staats­tra­gen­de Rol­le zu­kom­men soll­te. Mehr­mals nahm Schei­wi­ler in den 30er-Jah­ren an Ver­samm­lun­gen der «Ost­schwei­ze­ri­schen Ar­beits­ge­mein­schaft für die Er­rich­tung ei­ner be­rufss­tändi­schen Ord­nung» teil, die zwei­mal auch im Kan­tons­rats­saal in der Pfalz ab­ge­hal­ten wur­den.

Der Chef­re­dak­tor und die Fron­tis­ten

In der Ab­kehr von der frei­heit­lich-de­mo­kra­ti­schen Ord­nung hin zu ei­nem stände­staat­lich-au­to­ri­tären Sys­tem fand der Ka­tho­li­zis­mus im­mer wie­der An­knüpfungs­punk­te zu den schwei­ze­ri­schen Fron­ten­be­we­gun­gen. Die­se Er­neue­rungs­be­we­gun­gen stan­den un­ter dem Ein­druck der «Er­fol­ge» na­tio­nal­so­zia­lis­ti­scher Po­li­tik. Sie wa­ren nach an­ti­mo­der­nis­ti­schem Ver­s­tänd­nis aber nicht um­stürz­le­risch, wie man es et­wa dem «ver­ju­de­ten» Bol­sche­wis­mus vor­warf, son­dern soll­ten le­dig­lich die Ge­sell­schafts­ord­nung des An­ci­en Régime wie­der­her­stel­len und die bürger­li­chen Re­vo­lu­tio­nen von 1789 und 1848 rück­gängig ma­chen.

In sol­chen Ge­dan­ken­ge­bäuden be­weg­te sich be­son­ders eif­rig auch der Ror­scha­cher His­to­ri­ker und Ju­rist Carl Do­ka (1896–1980), der als Re­dak­tor für zahl­rei­che ka­tho­lisch-kon­ser­va­tiv ge­prägte Ti­tel schrieb und von 1932 bis 1946 als Chef­re­dak­tor der «Ost­schweiz» wirk­te. Auch er teil­te Schei­wi­lers Glau­ben an ei­ne jüdi­sche Un­ter­wan­de­rung des in­ter­na­tio­na­len Pres­se­we­sens. Der Ju­de blei­be in sei­nem Wirts­volk viel­fach ein Fremd­körper, und aus­ser­dem sei er von Na­tur aus in­ter­na­tio­nal, schrieb Do­ka im Sinn des da­ma­li­gen Über­frem­dungs­dis­kur­ses. Und auch er heg­te an­fäng­lich – und noch de­zi­dier­ter als Bi­schof Schei­wi­ler – Sym­pa­thien für die fron­tis­ti­schen Er­neue­rungs­be­we­gun­gen, in wel­chen er «Kräfte po­si­ti­ven Auf­baus» er­kann­te.

Als es bro­del­te im Fron­ten­frühling 1933, hielt er vor der «Ka­tho­li­schen Jung­mann­schaft St.Gal­len C» ein Re­fe­rat und freu­te sich über das ver­meint­lich an­ste­hen­de En­de des «li­be­ra­len Sys­tems» so­wie des Mar­xis­mus. Zur sel­ben Zeit pu­bli­zier­ten die St.Gal­ler Jung­kon­ser­va­ti­ven, ei­ne Grup­pe ak­ti­ver jun­ger Ka­tho­li­ken, ei­nen For­de­rungs­ka­ta­log in der «Ost­schweiz», der sich in fast al­len Punk­ten mit den For­de­run­gen der Fron­ten deck­te.

Im Au­gust 1933 fand in Zug ei­ne na­tio­na­le ka­tho­li­sche Jung­mann­schafts­ta­gung statt, die nicht nur des­halb an die Hit­ler­ju­gend er­in­ner­te, weil sich al­le rund 20'000 Teil­neh­men­den gleich klei­de­ten. Do­ka, der sel­ber vor Ort war, war ent­zückt: «Die Pe­ri­ode der Mas­sen und die Ta­ge der au­to­ri­tären Führung sind an­ge­bro­chen. Man fühlt es, dass die ka­tho­li­sche Ju­gend sich un­ter­ord­nen will und Lei­tung ent­ge­gen­nimmt.»

Carl Doka (1896–1980), von 1932 bis 1946 Chefredaktor der katholisch-konservativen «Die Ostschweiz»

Man reibt sich die Au­gen, wenn man heu­te den Nach­ruf auf Carl Do­ka liest. «Sei­ne ‹St.Gal­ler Pe­ri­ode› fiel zu­sam­men mit dem ‹Tau­send­jähri­gen Reich›», schrieb Klaus Am­mann 1980 in der «Ost­schweiz». «Na­zis­mus und Fron­tis­mus fan­den in C.D. ei­nen un­er­bitt­li­chen jour­na­lis­ti­schen Wi­der­sa­cher.»

Ver­gleicht man die St.Gal­ler Ta­ges­pres­se der 1920er- und 30er-Jah­re, fin­den sich die meis­ten an­ti­se­mi­ti­schen Tex­te in der «Ost­schweiz». Per­so­nen wie Jo­sef Böni, Alo­is Schei­wi­ler und Carl Do­ka oder auch der «Ost­schweiz»-Re­dak­tor und späte­re Lu­zer­ner Na­tio­nal­rat Karl Wick prägten die­sen Dis­kurs. An­ti­se­mi­ti­sche Ste­reo­ty­pen las­sen sich aber auch in po­li­tisch an­ders aus­ge­rich­te­ten Blättern nach­wei­sen. Bei­spiels­wei­se im Zu­sam­men­hang mit der Kon­fis­ka­ti­on der un­be­strit­ten an­ti­se­mi­ti­schen Pla­ka­te der «Schwei­zer Chris­ten­wehr» 1924 war im frei­sin­ni­gen «St.Gal­ler Tag­blatt» von ei­nem «un­ge­recht­fer­tig­ten Ein­griff in die Mei­nungs­frei­heit» zu le­sen. Und so­gar die so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche «Volks­stim­me» frag­te: «Ist der Frei­sinn so ver­ju­det, dass er das (die an­ti­se­mi­ti­schen Flug­blätter, Anm. d. Red.) nicht mehr er­trägt?»

Die evan­ge­li­schen Pfar­rer und die Na­zis

Auch po­li­tisch fand vor al­lem der ka­tho­li­sche Kon­ser­va­tis­mus im­mer wie­der An­knüpfungs­punk­te an den Na­tio­nal­so­zia­lis­mus und an die schwei­ze­ri­schen Fron­ten. Auf Ab­stand ging man erst, als sich in Deutsch­land der Kon­flikt zwi­schen NS-Re­gime und Kir­che an­bahn­te. Reichs­nähe war al­ler­dings kein rein ka­tho­li­sches Phäno­men. Bei­spiels­wei­se nah­men 1933 an der er­wähn­ten Ver­samm­lung der «Ost­schwei­ze­ri­schen Ar­beits­ge­mein­schaft für die Er­rich­tung ei­ner be­rufss­tändi­schen Ord­nung» auch ei­ni­ge Nicht­ka­tho­li­ken teil, et­wa der Na­tio­nal­rat und Ge­wer­be­ver­band­spräsi­dent Au­gust Schirm­er oder der Präsi­dent der evan­ge­li­schen Ar­bei­ter und An­ge­stell­ten, ein «Herr Chris­ten».

Der evan­ge­li­sche St.Gal­ler Pfar­rer Wer­ner Wirth (1886–1961), der von 1932 bis zu sei­ner Sus­pen­die­rung 1940 im wer­den­ber­gi­schen Az­moos pre­dig­te, blieb in sei­ner Ra­di­ka­li­tät ein Rand­phäno­men. 1920 for­der­te er noch als SP-Mit­glied den Ein­tritt der Par­tei in die Drit­te In­ter­na­tio­na­le; 1931 trat er sel­ber der eli­tären Fron­tis­ten­be­we­gung «Neue Front» bei und ver­fass­te in den 30er-Jah­ren Tex­te wie Kampf­ge­bet und Der Deut­sche Se­her. 1942 reis­te er nach Deutsch­land aus, ar­bei­te­te für den «Volks­bund für das Deutsch­tum im Aus­land» und lei­te­te 1944/45 das Ober­deut­sche Ar­beits­büro. Nach Kriegs­en­de kehr­te er in die Schweiz zu­rück. Er wur­de we­gen il­le­ga­ler Aus­rei­se und Lan­des­ver­rats ver­ur­teilt, 1952 aber be­gna­digt.

Spätes­tens als sich nach Sta­lin­grad das Blatt im Zwei­ten Welt­krieg zu Un­guns­ten der Ach­sen­mächte wen­de­te, be­gan­nen die deutsch­freund­li­chen Stim­men auch in St.Gal­len all­mählich zu ver­stum­men, wenn sie nicht oh­ne­hin schon ver­stummt wa­ren (Bi­schof Schei­wi­ler starb 1938). Und nach Kriegs­en­de woll­te kaum je­mand noch ir­gend­wie den Ver­dacht er­we­cken, man ha­be sich einst auf die «fal­sche» Sei­te ge­stellt. Es blieb an den nach­fol­gen­den Jour­na­list:in­nen und His­to­ri­ker:in­nen, auf­zu­zei­gen, wo all­fälli­ge Kon­ti­nui­täten be­stan­den oder wo al­tes Ge­dan­ken­gut un­ter den Tep­pich ge­kehrt wur­de, wie dies bei­spiel­haft im Nach­ruf auf Carl Do­ka ge­schah.

1979 veröffent­lich­te der He­ri­sau­er Jour­na­list Jürg Frisch­knecht mit drei Kol­le­gen das auf­se­hen­er­re­gen­de Nach­schla­ge­werk Die un­heim­li­chen Pa­trio­ten, in dem sie über 1000 Rech­te und Rechts­extre­me in der Schweiz so­wie de­ren Ak­ti­vi­täten auf­lis­te­ten. Dar­un­ter fi­gu­rier­te auch Gerd Zi­keli, ein 1937 in Sie­ben­bürgen ge­bo­re­ner evan­ge­li­scher Pfar­rer, der ab 1968 in Stal­li­kon ZH und ab 1976 in St.Gal­len-Brug­gen pre­dig­te. Nach aus­sen hin ein gemässig­ter Got­tes­mann, war Zi­keli ins­ge­heim auch ein be­geis­ter­ter Na­tio­nal­so­zia­list und An­ti­se­mit der Nach­kriegs­ge­nera­ti­on. Erst die Re­cher­chen Frisch­knechts und sei­ner Kol­le­gen förder­ten Zi­ke­lis Ak­ti­vi­täten in der rech­ten Zürcher Bur­schen­schaft «Ar­mi­nia» und in der 1974 da­von ab­ge­spal­te­nen rechts­extre­men «Na­tio­na­len Ba­sis Schweiz» zu­ta­ge.

Ei­ni­ge Mo­na­te nach sei­nem un­frei­wil­li­gen Ou­ting gab Zi­keli dem Schwei­zer Fern­se­hen ein In­ter­view. Nach sei­ner Hal­tung zur Shoa be­fragt, be­haup­te­te er, dass es auf dem Ge­biet des Deut­schen Reichs nie Ver­nich­tungs­la­ger ge­ge­ben ha­be. Der Jour­na­list hak­te nach: «Aber in Po­len?» Zi­keli ant­wor­tet zöger­lich: «Es wird be­haup­tet ...» Sei­ne me­dia­len und ju­ris­ti­schen Ver­tei­di­gungs­ver­su­che schei­ter­ten. Die Stimm­be­rech­tig­ten der Kirch­ge­mein­de St.Gal­len-West fäll­ten ihr Ver­dikt und be­rie­fen ih­ren Pfar­rer an der Ge­mein­de­ver­samm­lung im Fe­bru­ar 1980 dis­kus­si­ons­los mit 1072:39 Stim­men ab.