, 8. September 2021
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Kreuzlingens Kulturfabrik für alle

Ein Kulturzentrum in einer alten Fabrik, ein vielfältiges Programm, erschwingliche Preise: So sieht ein zehn Jahre alter Traum der Stadt Kreuzlingen aus. Mit dem Kult-X ist er Realität geworden. Doch die Volksabstimmung von Ende September könnte das Aus bedeuten. von Judith Schuck

Ja-Plakat in Kreuzlingen. (Bild: Judith Schuck)

Andere Städte hätten allen Grund, neidisch zu sein. Und auch Monty, der aufmüpfige Kulturhund von Simon Engeli und Rahel Wohlgensinger, weiss, was er am Kult-X hat, und bellt den «lieben Kreuzlingerinnen und Kreuzlingern» in aller Freundlichkeit ins Gesicht: Stimmt Ja, sonst beiss ich euch.

Tatsächlich ist das Kult-X ein Haus voller Kultur-Leben aller Sparten. Es gibt die Gesellschaft für Musik und Literatur für Klassikfans, das Theater an der Grenze für Liebhaber von Comedy, das Kultling und den Horst Klub für Rock- und Indie-Bands. Es gibt eine ganze Palette von Jazzmusiker:innen in der Umgebung, die hier Hochkarätiges auf die Bühne bringen, und auch Theatermacher:innen und Performer:innen, die teils keine eigene Bühne haben oder genau so ein Gebäude suchen, um ihre Stücke dem Publikum zu präsentieren.

Ausserdem hat der Tanz von Tango über Breakdance bis zu Improvisation im Schiesser-Areal – besagtem Fabrikgebäude an der Hafenstrasse 8 in Kreuzlingen – ein neues Zuhause gewonnen. Das Kursprogramm ist ein wichtiger Pfeiler des Kult-X.

Direkt Tür an Tür, im selben Gebäudekomplex, ist der Kunstraum Kreuzlingen der Thurgauer Kunstgesellschaft beheimatet und zeigt seit 2005 ausgewählte zeitgenössische Kunst. Auch das Kult-X selber ermöglicht immer mal wieder Kunst- und Fotografieausstellungen, in erster Linie von regionalen Kunstschaffenden.

Breakdance-Battle und Jazzkonzert von Mani Nude im Kult-X (Bilder: pd)

Nicht zu vergessen das Kino. Nachdem des Konstanzer Scala Kino einem Drogerie-Markt weichen musste – die Schliessung schlug hohe Wellen und inspirierte den Dokumentarfilmer Douglas Wolfensberger zum Film Scala Adieu – von Windeln verweht – starteten einige Mitglieder der Initiative «Rettet das Scala» das Filmforum Kreuzlingen und Konstanz (KuK) im Kult-X. Sie waren der erste Verein, der im noch völlig rohen Bau den ersten freien Raum des Kulturzentrums mit Arthouse- und Dokumentarfilmen bespielte und so bald ein Stammpublikum anzog.

Im Herbst 2017 begann Simon Hungerbühler vom Theater an der Grenze als Projektleiter, 2018 erhielt das Projekt seinen Namen Kult-X, 2019 übernahm Christine Forster, Musikdozentin in Kreuzlingen und von Anfang an vertraut mit dem Vorhaben, hier ein kulturelles Zentrum zu erschaffen. Der Umbau schritt voran, zusätzliche Räume wurden frei und umgebaut.

In den Raum S für Spiel zügelte die Ludothek. Im Raum T finden in erster Linie Tanz-, Theater- und Performance-Veranstaltungen statt. Der Raum K ist zum Kino geworden mit selbst gezimmerter Tribüne. Er wird auch für Konzerte genutzt. Die Gesellschaft für Musik- und Literatur ist inzwischen mit ihren Konzerten im Multifunktionsraum M angesiedelt, B steht für Bewegungsraum. Hier wird getanzt, Qigong oder Yoga gemacht. Und das See-Burgtheater hat seinen Fundus im Haus und probte für das diesjährige Stück Die Schweizermacher im Kult-X.

In drei Jahren ist die Vision von einem Ort für ein breitgefächertes Kulturangebot wahr geworden. Doch könnte die Traumblase bald platzen.

SVP kritisiert Steuergelder für Kultur

Vor gut einem Jahr rumorte es im Kreuzlinger Gemeinderat. Das Unbehagen gegenüber dem Geschehen im Schiesser-Areal ging von der SVP-Fraktion aus. Das Kult-X schlucke Steuergelder, die nicht offen gelegt würden. Es sei ein Projekt der Stadt, die dazu niemals den Gemeinderat oder das Volk befragt habe.

Eine schriftliche Anfrage der SVP-Gemeinderätin Barbara Hummel setzte die Räder in Gang, die schliesslich zur Volksabstimmung am 26. September führten. Die Bevölkerung solle sehen, was das Kulturzentrum tatsächlich koste.

Die Geschichte beginnt 2008. Damals kaufte die Stadt Kreuzlingen für 2,1 Millionen das Schiesser-Areal, mit der Absicht, hier ein Zentrum für Gewerbe und Kultur aufzubauen. 2012 gab es bereits ein dreimonatiges Pilotprojekt «Kultur im Shop». Kulturstadträtin Dorena Raggenbass hatte dafür eine Arbeitsgruppe einberufen. Schon damals war Christine Forster federführend.

Auf keinen Fall solle dieses Pilotprojekt im Sand verlaufen, sagte sie nach diesem Erfolg, von dem viele noch heute schwärmen.

Ab 2017 begann allmählich der Aufbau des Kulturzentrums, da Räumlichkeiten frei wurden. Die Stadt unterstützt das Pilotprojekt seit 2019 mit einem festen Betriebsbeitrag. Ab 2022 soll die Stadt für die Weiterentwicklung des Betriebs drei Jahre lang 250’000 Franken jährlich zur Verfügung stellen. Davon gehen 120’000 Franken an die Betriebskosten des Trägerverein Kult-X. Die übrigen 130’000 Franken sind die Miete, die sie dem Verein erlässt.

Bei der Abstimmung am 26. September geht es zum einen um diesen Unterstützungsbeitrag durch die Stadt. Zum anderen soll die Liegenschaft im Wert von 4,87 Millionen Franken von einem Landkreditkonto ins Verwaltungsvermögen der Stadt überschrieben werden: ein rein buchhalterischer Akt, bei dem keine Gelder fliessen, dies sei bereits vor zehn Jahren geschehen, so Raggenbass.

Im Lockdown Veranstaltungen ausgelotet

Christine Forster, inzwischen Geschäftsleiterin, steckte gemeinsam mit den Vorständen und unzähligen Stunden Freiwilligenarbeit viel Herzblut und Energie ins Kult-X. Wichtig sei ihr Professionalität, denn diese ziehe letztlich auch Qualität an. Selbst 2020 kamen trotz Lockdown 58 Veranstaltungen zusammen.

Hommage an Piazzolla im Raum T des Kult-X.

«2021 haben wir während des Kultur-Shutdowns regelmässig das Familienkino ‹Bring Your Own Movie› veranstaltet und die Räumlichkeit für Künstler freigegeben. Wir hatten keinen einzigen Tag geschlossen», fasst sie zusammen. «Seit der Öffnung am 19. April 2021 haben wir circa 100 öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, im Schnitt vier bis fünf pro Woche. Dazu kommen 25 Kurs- und Probefenster, die Öffnungszeiten der Ludothek, Wochenend- und Ferienbelegungen, Sitzungen und diverse geschlossene Veranstaltungen.»

Sie und Stephan Militz, die den Bärenanteil an Arbeit leisten, sind allmählich müde. Sie haben alles gegeben, um zu zeigen, was möglich ist.

Notwendig oder nice to have?

Jetzt, wo sich der Abstimmungskampf zuspitzt, erreichen die Zeitungen vereinzelt Leserbriefe, in denen sich Gegner:innen zu Wort melden. Darunter Marc Portmann, CVP-Gemeinderat, unter dem Titel «Kult-X taugt nix». Er findet, das Projekt sei eingeklemmt zwischen dem Kulturangebot in Weinfelden und Konstanz und damit überflüssig. Auch scheint es Neider:innen zu geben, die sich ursprünglich im Kulturzentrum verwirklichen wollten, und bisher nicht zum Zuge kamen.

Es gibt ein aktives Pro-Komitée mit 120 Mitgliedern, das sich bunt aus fast allen Parteien und privaten Unterstützer:innen für zweimal Ja bei der Abstimmung einsetzt.

Auf die Frage, warum es kein offizielles Gegenkomitee gebe, antwortet SVP-Vertreterin Barbara Hummel: «Ich kann eigentlich nur für meine Fraktionskolleg:innen und mich sprechen. Wir sind klar dagegen. Ich gehe jedoch davon aus, dass es bei den Gegnern vor allem weitsichtige Leute sind, die Notwendiges von ‹nice to have› unterscheiden können, sich aber dem öffentlichen Druck und der zurzeit betriebenen Polemik – vor allem gegenüber der SVP –  nicht aussetzen möchten.»

Ihre Fraktion ist der Ansicht, dass sich Kreuzlingen das Kult-X nicht leisten kann. Es stünden wichtige Bauprojekte an und durch Corona stiegen die Sozialausgaben. Sie glaubt ausserdem, das Kult-X sei ein Fass ohne Boden. «Der Aufbau des Kult-X hätte nie in Angriff genommen werden dürfen, ohne vorher die langfristige Finanzierung zu sichern. Das taktische Vorgehen des Stadtrates hat nun dazu geführt, dass der Aufbau bereits sehr fortgeschritten ist, viel Geld und Arbeit investiert wurde, mit dem Risiko, dass jetzt allenfalls alles für die Katz sein könnte.»

Kultur für alle braucht Subventionen

Hummel, die sich daran stört, dass für viele Veranstaltungen keine Eintrittsgelder verlangt werden, fragt: «Darf denn mit Kultur kein Geld verdient werden?»

Forsters Antwort: «Ich bin schon der Meinung, dass man mit Kultur Geld verdienen könnte, zum Beispiel mit teuren Ticketpreisen oder umgekehrt mit Künstlergagen, die einem Trinkgeld gleichen. Aber dann ist das Kult-X nicht mehr für alle da. Ein Kulturprogramm kann sich in der Regel auch nur im Zusammenhang mit einer florierenden Gastronomie und ebendiesen hohen Ticketpreisen selbst tragen, zum Beispiel bei einem Festival. Ich kenne kein einziges Kulturzentrum, wo dies der Fall ist.»

Bisher könne das Kult-X nur ein Drittel der Kosten selbst tragen. Einige Veranstalter, allen voran das Kino, arbeiten mit Kollekten. So haben auch Menschen mit geringem Einkommen die Möglichkeit, so viel zu zahlen, wie sie können. Seit einiger Zeit macht man aber auch sehr gute Erfahrungen mit Ticketing. «Unsere Ticketpreise variieren je nach Veranstaltung und sind mittlerweilen wichtiger Bestandteil der Einnahmen», so Forster.

Was passiert bei einem Nein? «Geplant wäre bei einem doppelten Nein zur Volksbotschaft, dass der Pilotbetrieb um eine weiteres Jahr verlängert wird. In dieser Zeit wird die Stadt mit dem Trägerverein und den Kulturveranstaltern das Betriebskonzept überarbeiten, ein neues Konzept und Betriebsstruktur  auszuarbeiten», erklärt Kulturstadträtin Dorena Raggenbass. Das neue Konzept würde erneut dem Volk oder Gemeinderat vorgelegt werden.

«Wenn der Gemeinderat diese Beiträge streicht, dann können wir den jetzigen Betrieb nicht in dieser Form weiter führen. Dann werden wir mit den Kulturveranstaltern, allen voran dem Theater an der Grenze, dass jetzt schon eine eigene Spielstätte hatte, neue Lösungen suchen.»

Bei einem Nein an der Urne weiss Christine Foster noch nicht, wie es mit dem Kult-X weitergehen wird und ob sie noch dabei sein wird. Es wäre sicher eine herbe Enttäuschung. Für ein Weiter gebe es allerdings verschiedene Möglichkeiten. «Die gilt es aber erst nach der Abstimmung auszuloten. Eine Möglichkeit ist aber tatsächlich, dass die Türen des Kult-X am 31. Dezember 2021 schliessen werden.»

Judith Schuck ist freie Journalistin und arbeitet im Kommunikationsteam des Kult-X mit.

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