Kopftuch: Der Wiler Weg

Kopftuch, Kreuz oder Kippa: Eigentlich unfasslich, dass eine aufgeklärte, tolerante Gesellschaft darüber streitet. Trotzdem droht die Rechte auch in der Ostschweiz mit Initiativen für ein Kopftuchverbot. Die Stadt Wil hat einen eigenen Weg gefunden.
Von  Harry Rosenbaum

Als erster Kanton hat der Tessin am Wochenende per Volksabstimmung ein Burka-Verbot beschlossen. Es wird die nationale Islam-Debatte anheizen, vor allem auch Richtung Kopftuch-Verbot an Schulen. Dieses ist, im Gegensatz zur Totalverschleierung, auch in der Ostschweiz ein kontrovers diskutiertes Thema.

Zur Erinnerung: In Heerbrugg sind im Juni zwei Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen worden, weil sie auf das Tragen des religiösen Symbols nicht verzichten wollten. Schliesslich hat der Schulrat den Ausschluss rückgängig gemacht. Das Bundesgericht hob im Juli ein Kopftuch-Verbot für muslimische Schulmädchen in Bürglen TG wieder auf, mit der Begründung, hierfür fehlten die rechtlichen Grundlagen. Die Junge SVP nahm dies zum Anlass, in der September-Session des St.Galler Kantonsrats eine Initiative für die Einführung eines kantonalen Kopftuch-Verbots an der Volksschule anzukündigen.

Eigene Wege geht seit geraumer Zeit die Stadt Wil. Kopftuchtragen während des Unterrichts ist erlaubt, wenn die Trägerinnen glaubhaft machen können, dass sie beten. Welche Überlegung steckt dahinter?

«Erst wenn von einem Mädchen selber religiöse Hauptpflichten als Grund für eine Sonderbewilligung vorgebracht werden, braucht man genauer hinzusehen», sagt Stadträtin und Schulpräsidentin Marlis Angehrn (CVP, Bild unten). Andere, traditionell oder weltanschaulich bedingte Motive würden gemäss Lehre und Rechtsprechung keinen Schutz der Religionsfreiheit finden. Wer religiöse Hauptpflichten (dazu zählt das Beten) nur vorschiebe, um eine religiöse Nebenpflicht (wie das Tragen des Kopftuchs) durchzusetzen, argumentiere widersprüchlich. «Schutz der Religionsfreiheit und somit das Recht, das Kopftuch auch im Schulzimmer zu tragen, verdient nur, wer eine selbstgewählte Erfüllung religiöser Hauptpflichten glaubhaft darlegt.»

Angehrn Marlis Foto

Was muss ein muslimisches Mädchen in Wil konkret tun, um eine Sonderbewilligung zu erwirken?

«In Wil gibt es keinen Bet-Zwang für muslimische Mädchen», sagt Angehrn. «Vielmehr gilt folgendes: Ausnahmslos jedes muslimische Mädchen, das es wirklich ernst meint mit seinen religiösen Pflichten, will von sich aus beten. Diese Mädchen sind berechtigt, mit der Schule eine weitergehende religiös motivierte Verhandlung über ein allfälliges staatliches Entgegenkommen zu führen, beispielsweise die Bewilligung, ein Kopftuch auch im Schulzimmer zu tragen.» Als Muslima nicht zu beten sei selbstverständlich auch in Wil legitim und habe keine Konsequenzen, denn es bleibe in diesem Falle einfach bei der Gleichbehandlung mit allen anderen Schülerinnen und Schülern, die es mit der Religion ebenfalls nicht so genau nehmen, sagt die Wiler Schulpräsidentin weiter. «Mit anderen Worten: Eine angebliche religiöse Pflichterfüllung nur zu behaupten, ihr aber nicht nachzuleben, ist legitim, weil Religion in der Schweiz Privatsache ist. Widersprüchlich und somit nicht legitim ist es hingegen, gestützt auf Behauptungen, die man selber nicht ernst nimmt, ein staatliches Entgegenkommen einzufordern, das den übrigen Schülerinnen und Schülern nicht gewährt wird.»

Wie viele religiös motivierte Kopftuchträgerinnen gibt es überhaupt an den Wiler Schulen?

«Anfragen bezüglich des Kopftuchs im Schulzimmer gibt es regelmässig», sagt die Schulpräsidentin. «In sämtlichen Fällen verstanden die Gesuchstellenden den Hinweis bestens,  wonach erst die Hauptpflichten zu erfüllen sind, bevor mit der Schule auch nur ansatzweise über Nebenpflichten und Sonderwünsche verhandelt werden kann. Sie sahen ein, dass sie in Wil der Schule nicht einfach irgend etwas über ihre Religion erzählen können, sondern die Schule sich intensiv mit ihrer Religion befasst hat. Dies wird von den Zugewanderten praktisch immer als ein Zeichen von Respekt gegenüber ihrer Herkunft und ihrer Religion verstanden, womit bereits eine gute Basis geschaffen ist für eine Vereinbarung ohne Sonderrechte.»

Jene wenigen Mädchen, mit denen eine Sonderlösung vereinbart würde, legten das Kopftuch in der Regel nach nicht allzu langer Zeit selbstbestimmt ab, da sie bald einmal garderobemässig so chic sein wollten wie ihre Kolleginnen, mein Angehrn. «Aktuell trägt eine Schülerin das Kopftuch mittels Sonderbewilligung auch im Schulzimmer. In den letzten zwölf Jahren hatten zuvor zwei Mädchen ebenfalls eine solche Bewilligung.»

Die Regelung der Kopftuch-Frage in Wil stützt sich auf Wahrhaftigkeit, Gleichheit und Zivilrecht. Sie wirkt nicht so, als hätte sie einen islamfeindlichen Hintergrund oder die Absicht, abendländisches Denken als Leitkultur durchzusetzen. Und sie betrifft eine kleine Minderheit – umso stärker bleibt das ungute Gefühl, dass die Kopftuch-Frage in Teilen der Gesellschaft zur Projektionsfläche für Ängste und Vorurteile gegenüber Muslimen, dem Islam und allem Fremden wird.

Zwar zeugt das Tragen von Kopftuch, Kreuz und Kippa, um sich religiös zu outen, nicht unbedingt von einer fortschrittlichen Haltung. Aber die Gesellschaft müsste nichtsdestotrotz tolerant darauf reagieren. In der Schweiz gibt es Anzeichen, dass sie es immer weniger tut.