Konfliktreiche Fäden: «Ly-Ling und Herr Urgesi»

In ihrem Atelier an der St. Galler Bahnhofstrasse arbeitet die Designerin Ly-Ling Vilaysane aus dem innerrhodischen Steinegg zusammen mit dem Feinmassschneider Cosimo Urgesi, ursprünglich aus Apulien, seit bald 50 Jahren in St. Gallen lebend. Eineinhalb Jahre lang beobachtet der Zürcher Filmemacher Giancarlo Moos mit seiner Kamera die Kooperation.
Chronik eines Missverständnisses
Das Ergebnis heisst «Ly-ling und Herr Urgesi». Der Film dokumentiert mit einfachen Mitteln und ohne cineastischen Schnickschnack ein Missverständnis, einen Konflikt über unterschiedliche Erwartungen. Schwierig für die beiden Protagonisten, die inzwischen nicht mehr zusammenarbeiten – amüsant für das Kino-Publikum.
Ly-Ling Vilaysane, die in Paris Modedesign studierte und für ihre Kreationen diverse Preise gewonnen hat, will für ihr Label «aéthérée» (franz: ätherisch) auch Anzüge anbieten und baut dabei auf die Fertigkeiten von Urgesi. Er soll ihr einiges beibringen – aber auch ihre Entwürfe umsetzen, die für die Stange gedacht sind. Sie schert sich nicht um scheinbar eherne Gesetze der Scheiderzunft, die besagen, dass bei einem Anzug ein Kragen höchstens so und soviel Zentimeter hoch sein darf. Sie sagt: «Herr Urgesi muss sich anpassen, so wie bisher geht es nicht».
Ihr Kompagnon hat Jahrgang 1945. Seit fast 50 Jahren fertigt er in St. Gallen Anzüge auf Bestellung. Wenn Urgesi einen Auftrag annimmt, muss er den Kunden kennen: Hängen die Schultern, ist die Brust breit, der Rücken gerade? Alles entscheidende Faktoren für einen Massschneider.
Urgesi sieht sich als letzten Vertreter eines aussterbenden Handwerks. Seine Stiche mit Nadel und Fingerhut sind bewundernswert flink, für das Schneiden der Fäden braucht er die Zähne und nicht die Schere. Einmal sieht man im Film beide beim Nähen: Urgesi ist etwa siebenmal schneller. Alles was er kann, hat er mit viel Einsatz und wohl auch unter Entbehrungen gelernt. Für ihn sind die Rollen deshalb klar verteilt: Er ist ein Meister seines Fachs, Ly-Ling Vilaysane die Schülerin.
Integration hat viele Gesichter
Aus diesen unvereinbaren Erwartungen bezieht der Film seine Spannung. Eine Lösung gibt es nicht. Im Gegenteil: Das Missverständnis zieht sich bis zur Filmpremiere am letzten Freitagabend hin. Bei der Vorstellung der Protagonisten auf der Bühne erklärte Urgesi einmal mehr seine Haltung: Wer nicht wie er bereits als Zwölfjähriger zu schneidern begonnen habe, müsse alles geben, um den Rückstand aufzuholen, sagte er.
Weil die Auseinandersetzungen für die beiden Protagonisten zwar wichtig sind, für die Welt aber eher ein kleines Problem darstellen, wurde es kein schwerer Film. In Solothurn gab es während der Vorstellung viel Gelächter im Publikum.
Für die Pointen sorgte vor allem der mit viel Berufsstolz gesegnete Urgesi. Er gehört zu den Einwanderern aus den 60er-Jahren, die auch nach Jahrzehnten nur ein sehr rudimentäres Deutsch sprechen. Man sieht ihn in einer Sequenz in der Ausstellung «Ricordi e Stima» im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen, beim Betrachten der Fotos über das Leben der Gastarbeiter. Er erinnert sich an die Feste, an die langen Zugfahrten zurück in die Heimat nach Apulien.
Natürlich ist die Sprachbarriere zwischen Urgesi und der appenzellernden Ly-Ling Vilaysane, die mit ihrer Familie 1979 als Boat Peopole aus Laos gekommen war, ein Problem. Sie ist quirlig, sehr kommunikativ, sprudelnd vor Ideen – aber italienisch kann sie halt nicht. Bei Aussprachen brauchen die beiden einen Übersetzer. Es ist deshalb auch ein Film über Unterschiede in der Integration.
Urgesi nimmt oft Zuflucht zu dieser typisch italienischen Gestensprache, die auf der Leinwand gut ankommt. Immer wieder drückt er unter anderem mit dem Hochziehen der Schultern so etwas wie melancholische Resignation aus: Was will man machen? Zu sehen bei zahlreichen Film-Italienern von Robert de Niro bis Toni Soprano. Urgesi beherrscht sie in Perfektion.
Ob der Film in St.Gallen gezeigt wird, ist noch offen.