Kompromiss im Herzen

Meine Nummer ist die 107. Sie steht auf dem Schlüssel, mit dem ich das Fächli unter der Tischplatte abschliessen könnte, aber das tut niemand. Stattdessen klappen sie alle den altmodisch kupfernen Deckel zu über den drei Knöpfen «Ja», «Nein» und «Enthalten». Es gibt einen vierten Knopf, er ist blau. Ich habe nachgefragt, wofür er da ist; in Sondersituationen, in denen geprüft werden muss, ob die Kammer beschlussfähig ist, müssten wir mit dem blauen Knopf unsere Anwesenheit bestätigen. Ich glaube, ich habe bis vor zwei Monaten noch nie das Wort «beschlussfähig» benutzt.
Wenn der Ratspräsident die Sitzung beendet, klappen alle den Deckel dieser vier Abstimmungsknöpfe zu, völlig unnötigerweise, aber ich glaube, sie machen das fürs Feeling. Das Scheppern verteilt sich im ganzen Saal. Es ist das Geräusch einer Pause, des «bon weekend», das wir danach einander wünschen.
Am Feierabend frage ich meine neuen Gspänli gern, ob sie etwas Freizeit vor sich haben. Dann erzählen sie mir von ihren Kindern, ihren Ferienhäusern, ihren Hobbys. Es ist das, was ich bis anhin selten wahrgenommen habe von Parlamentarier:innen: den Teil ihres Lebens, in dem sie keinen Blazer tragen. Sondern ein Bandshirt, die Wäsche oder Verantwortung über ein Familienmitglied. Wenn ich selbst etwas aus meinem Leben erzähle, fühlt es sich schnell an wie oversharing. Was ironisch ist, wenn wir bedenken, dass die politische Perspektive auf mein Privatleben ein Mitgrund ist, warum eine absurde Anzahl Menschen bestimmt hat, dass ich sie im nationalen Parlament vertreten soll.
Wenn ich zu Unrecht glaube, dass niemand hinsieht, ziehe ich den Blazer manchmal aus. In der Nacht der langen Messer etwa, weil es so heiss war, dass ich mir ungeschriebene Regeln von Schwulenpartys herbeiwünschte, wo einfach jeder so etwa ab halb zwei seinen Oberkörper entblösst. Aber es war noch nicht halb zwei und offen schwul waren die wenigsten. Als auf ein TikTok-Interview ein Radiointerview folgte, legte ich meinen Blazer kurz weg und gab im ärmellosen Shirt Antwort. Ich habe mich selten so nackt gefühlt wie im erstickend heissen Bellevue-Hotel unter lauter Anzugträger:innen. Ich glaube, ich habe noch nie ein paar Oberarme von amtierenden Parlamentarier:innen gesehen. Vielleicht sind sie übersät mit krassen Tattoos, wo Wörter wie «Kompromiss» und «mehrheitsfähig» in Herzen prangen.
Einer meiner neuen Tischnachbarn sagte mir letztens «Ich habe dich ein bisschen beobachtet, und du guckst in diesem Parlament immer drein wie Alice im Wunderland». Abgesehen davon, dass kein Ü50-Mann einer jungen Frau sagen sollte, dass er sie «ein bisschen beobachtet hat», stimmt das schon: Es ist ein Wunderland. Ein Wunder, dass ich das machen darf. Und wundersam, wie ich das alles lernen soll. Aber: Ich werde es lernen. Ich weigere mich zu glauben, dass ich das nicht kann, denn das ist das, was wir jungen Frauen einreden – und mit 33 gehöre ich im Schweizer Parlament zu den zehn jüngsten.
Ich staune also über alles, über die unheiligen Allianzen und die gottlosen Intrigen, die sauberen Westen und die schmutzige Wäsche. Ich staune über die schiere Zahl an Sicherheitspersonal und darüber, wessen Sicherheit nicht geschützt wird unter dieser Kuppel.
Ich staune darüber, welche Neuanfänge mir entgegenkommen.
Und welche Abschiede anfallen.
Bon weekend.
Anna Rosenwasser, 1990, wohnt in Zürich und ist freischaffende Journalistin und frisch gewählte Nationalrätin. Ihre gesammelten Kolumnen erschienen letztes Jahr als Rosa Buch beim Rotpunkt-Verlag in Kooperation mit Saiten. Sie hat die Nebenbei-gay-Kolumne bei Saiten im April 2019 zum ersten Mal geschrieben. Jetzt, nach knapp fünf Jahren, macht sie Schluss mit uns. Was schade ist, aber total okay. Nichts hält ewig. Wir bedanken uns für viele tolle Texte und die gute Zeit und wünschen Anna alles Gute und viel Durchhaltewillen im Parlament und überhaupt. Ab Februar übernimmt diesen Platz Mia Nägeli.