, 15. November 2018
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Kolumbus entdeckt das «Tagblatt»

Es sieht schlecht aus für das «St.Galler Tagblatt». CH Media, der neue Konzern von NZZ- und AZ-Regionalmedien, will national 200 Stellen abbauen. Und tauft sein Sparprogramm ausgerechnet «Kolumbus».

Über die konkreten Auswirkungen gibt es erst Geraune. Seit dem 1. Oktober ist das Joint Venture von NZZ-Regionalmedien und AZ Medien in Kraft, gerade einmal sechs Wochen später hat die mit Chefs aus Zürich und dem Aargau besetzte Direktion ein einschneidendes Sparprogramm verkündet.

Zehn Prozent der Kosten oder 45 Millionen Franken sollen gespart werden. Das bedeute einen Abbau von 200 Vollzeitstellen, rund ein Zehntel der heutigen Belegschaft, teilt das Medienhaus mit. Das Ganze wird als «Integrationsprogramm» bezeichnet und soll die Zukunftsfähigkeit von CH Media sichern – schliesslich, sagt CEO Axel Wüstmann gegenüber persoenlich.com, habe man den neuen Konzern «für die nächsten Jahrzehnte gegründet, nicht nur für ein paar Jahre».

Zehn Prozent: Soviel werde der Print-Werbemarkt pro Jahr schrumpfen, befürchtet Wüstmann. Die Sparübung soll diese Einnahmenausfälle kompensieren.

Abbau «in allen Abteilungen»

Wo Stellen gestrichen werden, wisse man noch nicht, sagt Wüstmann. 40 Projekte und über 100 Teilprojekte umfasse der Sparplan, betroffen seien alle Abteilungen. Konkret nennt Wüstmann die Zusammenführung von HR und Finanzen der beiden Unternehmen, die Vereinheitlichung der IT-Dienste, den gemeinsamen Einkauf oder eine gemeinsame «Eventstrategie» für TV und Radio.

Und zentral: eine neue Mantelredaktion für die bisher im Aargau, in der Zentralschweiz und in der Ostschweiz produzierenden Regionalzeitungen der AZ Medien, der «Luzerner Zeitung» und des «St.Galler Tagblatts». Wo diese Mantelredaktion arbeiten wird, sei auch noch nicht entschieden, sagt Wüstmann. Alle Anzeichen deuten auf Aarau oder Zürich – St.Gallen und Luzern ziehen mit Sicherheit den Kürzeren.

Antwort von Radio Eriwan

Genaueres ist auch auf Nachfrage nicht in Erfahrung zu bringen. «Tagblatt»-Chefredaktor Stefan Schmid verweist an die Medienstelle von CH Media. Ihr Sitz ist in Aarau; dort hat Saiten versucht, drei Fragen zu stellen:

Erstens: Die NZZ Mediengruppe weist im Geschäftsbericht 2017 einen Gewinn von rund 26 Millionen Franken aus, die Regionalmedien einen Gewinn von 11,4 Millionen. Wie lässt sich unter diesen Umständen die Notwendigkeit der Einsparung von 45 Millionen Franken rechtfertigen?

Zweitens: Die Mantelredaktion ist das Kernstück des Joint Venture. Wie sieht dieser künftige Mantel aus und wie sind die Auswirkungen auf die heutige Sport-, Wirtschaft- und Focus-Redaktion beim «St.Galler Tagblatt»? 

Drittens: Steht die «Tagblatt»-Druckerei in Winkeln auch zur Diskussion innerhalb der 40 Integrations-Projekte?

Die Medienstelle antwortet: «Insgesamt wollen wir in den kommenden 24 Monaten unsere Kostenbasis um 45 Mio. CHF senken. Das sind ungefähr 10%. Damit einher geht ein Stellenabbau von rund 200 Vollzeitstellen, bei aktuell ca. 2’200 Mitarbeitenden. Es sind alle Bereiche betroffen. Regionale Ausprägungen gibt es keine. Und natürlich werden wir mit Augenmass vorgehen. Und vor allem unsere regionale Verwurzelung nicht aufs Spiel setzen.»

Auf nochmalige Nachfrage folgt die Begründung: «Das Geschäftsjahr 2018 war für die gesamte Branche ein schwieriges Jahr, und wir gehen auch davon aus, dass dies in den kommenden Jahren so bleiben wird. Aus diesem Grund setzt CH Media frühzeitig das Integrationsprogramm auf. Ziel ist die Effizienzsteigerung im gesamten Unternehmen, um damit die Zukunftsfähigkeit von CH Media in den kommenden Jahren zu sichern.»

«Kolumbus», wie das «Integrationsprogramm» intern heisst, weiss offensichtlich noch nicht, wohin die Fahrt geht – oder sagt es zumindest nicht, was den Kapitänen wiederum nicht das beste Zeugnis ausstellt, besonders in einem Haus der Information und Kommunikation. Wenn das Projekt verhebet, könnte man ordentlich darüber informieren, denkt der Laie.

Eine Spur der Verwüstung

Dem Original-Kolumbus ging es in Sachen Orientierung allerdings auch nicht anders. Der Mann hat nicht umsonst einen schlechten Ruf, zumindest aus neuerer, kolonialismuskritischer Sicht.

Christoph Kolumbus, lange als angeblicher «Entdecker» Amerikas gefeiert, hat zum einen irrtümlich (wenn auch dem damaligen Kenntnisstand entsprechend) angenommen, er sei im Jahr 1492 mit seiner Santa Maria nach Indien gesegelt. Drum tragen, zum zweiten, die dortigen Einwohner den falschen Namen «Indianer». Und sie haben, drittens, für ihre «Entdeckung», die nur aus eurozentristischer Perspektive eine solche war, teuer bezahlt – die spanischen Kolonisten und ihre Nachfolger richteten mit Waffen und Seuchen einen der folgenreichsten Genozide der Menschheitsgeschichte an.

Zwar: Mit Abbau war zu rechnen, schon als das Joint Venture bekannt gegeben wurde. Dennoch hätten die Chefs in Zürich und Aarau besser einen Blick in die Geschichtsbücher getan, bevor sie dem Sparprogramm den Namen «Kolumbus» gaben. Denn auch dem legendären Ei des Kolumbus ist es nicht gut gegangen – es blieb zwar stehen, hatte danach aber einen Tätsch.

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