Kollektiv wohnen tut auch weh, aber

Immunium® Akut #10: Bettina Dyttrichs Lob des Vielpersonenhaushalts. Knatsch, Pingpong und abendliches Türfallendesinfizieren inklusive.
Von  Gastbeitrag

Die Kleinfamilie als heile Gegenwelt zum brutalen Berufsalltag – das war schon vor Corona eine böse Überforderung. Jetzt, wo der Kleinfamilienhaushalt auch noch Homeoffice und Freizeitarena geworden ist, also alle Bedürfnisse auf einmal erfüllen soll, lässt sich diese Trennung nicht mehr aufrechterhalten. Was Feminist*innen eigentlich freuen sollte: Der Haushalt wird damit noch stärker zur Produktionsstätte, die er immer schon war; die Trennung in Heim (privat) und Wirtschaft (in der Fabrik oder im Büro, jedenfalls woanders), die sich seit der Industrialisierung etabliert hat, noch fragwürdiger.

Saiten hat sich zum Jahresschluss ein Heft zur Immunstärkung vorgenommen. Wir wollten Anregungen und Überlegungen aller Art zur politischen, gesellschaftlichen und individuellen Kräftigung des Immunsystems sammeln.

Zusammengekommen sind 24 Beiträge aus allen möglichen Richtungen, ein Adventskalender der resistenten Art: Kurzgeschichten, Selbsterfahrungen, Appelle, Wutausbrüche, Tiefgang und Smalltalk, Rezepte und Rezeptverweigerungen. 24 Stimmen, 24 Seiten, eine geballte Dosis Immunium® Akut, garantiert mit Risiken und Nebenwirkungen.

Doch die Diskussion darüber findet nicht statt, im Gegenteil. Aufs Land ziehen, ein Haus kaufen – mit einem zusätzlichen Zimmer fürs Homeoffice: Die Idealisierung des Kleinfamilienhaushalts hat sich noch verstärkt.

Auch den Alltag zu vergessen, muss man jetzt zu Hause schaffen, denn draussen wird man umso heftiger an Masken, Abstände und Desinfektionsmittel erinnert. Und wer noch keine Familie gründen konnte oder das gar nicht will, hat es auch nicht besser: Viele, die allein oder zu zweit im Lockdown oder in Quarantäne waren, erlebten das als sehr beklemmend.

Es klingt vielleicht vermessen, in Zeiten von «Treffen Sie so wenige Menschen wie möglich» ein Gegenmodell zu diesen verschiedenen Kleinhaushaltsmodellen zu fordern. Ich tue es trotzdem. Ich habe den Lockdown in einem Grosshaushalt mit zwölf Erwachsenen, fünf Kindern und einem Jugendlichen verbracht, und es war gut.

Manches mussten wir gar nicht ändern: Von Montag bis Freitag ist jeden Tag eine andere Person für alle Kinder zuständig. Das bewährte sich, auch als alle zu Hause lernten. Wir Erwachsenen spielten Pingpong, machten Yoga, organisierten Disco- und Filmabende, luden einander aufs Zimmer ein, um Lieblingsplatten vorzuspielen, lernten Lieder, malten Transparente für Distanzdemos. Der Schwatz beim abendlichen Türfallendesinfizieren wurde zum Ritual, und klar, das ewige Hoch, die immer längeren strahlenden Tage halfen auch. Das wird jetzt im Frühwinter etwas schwieriger.

llustration: Joël Roth und Zéa Schaad

Wir hatten bisher keine Corona-Fälle – vielleicht sähe meine Bilanz sonst anders aus. Vielleicht würden wir uns alle anstecken, zumindest müssten wohl alle in Quarantäne. Aber auch davor habe ich weniger Angst als vor der Isolation in einer Einpersonenwohnung oder einer Kleinfamilie. Kinder sind keine Versicherung gegen Einsamkeit: Kein Kind ist verpflichtet, später mit seinen Eltern befreundet zu sein. In grösseren Zusammenhängen wohnen ist hingegen eine aktive Strategie – nicht nur weil wir mehr Kontakte haben, sondern auch weil wir ständig gezwungen sind, uns mit unseren Mitbewohner*innen und uns selbst auseinanderzusetzen.

Platzbedarf, Ordnung, Essen: Immer wieder prallen Bedürfnisse aufeinander. Wir hinterfragen uns, gehen uns furchtbar auf die Nerven, fühlen uns missverstanden, handeln aus, was wir brauchen – zusammenwohnen kann sehr schmerzhaft sein, aber auch extrem lehrreich. Ich hoffe, dass ich dabei so offen, beweglich und empathisch werden kann, dass ich mich vor Einsamkeit nicht fürchten muss. Auch nicht in kommenden Pandemien oder im Alter.

Bettina Dyttrich, 1979, ist Redaktorin der WOZ.