Kohärente Politik

Demo, Partys und Diskussionen: Dieses Jahr gab es in St.Gallen gleich mehrere Veranstaltungen anlässlich des internationalen feministischen Kampftages.
Von  Corinne Riedener
Bilder: jg

Farbige Regenschirme, kurdische Musik und allerhand Transparente: Mehrere hundert Menschen sind dem Aufruf des St.Galler 8.-März-Komitees gefolgt und haben sich am Mittwochabend auf dem Kornhausplatz zur Demo getroffen.

Der Krieg in der Ukraine, das Erdbeben in der Türkei an der Grenze zu Syrien, die anhaltenden Proteste im Iran und auch in Lateinamerika sind allgegenwärtig. Der feministische Kampftag in St.Gallen zeigt sich in diesem Jahr noch internationaler als in den vergangenen Jahren. Ein schönes Zeichen auch, dass die Kundgebung mit einer Schweigeminute für die Erdbebenopfer in ihre Angehörigen in Kurdistan, Syrien und der Türkei startet.

Die Gewerkschaften und Parteien halten sich diesmal im Hintergrund, dafür gibt es Reden von der kurdischen Frauenbewegung, dem FINTA-Treff St.Gallen, der die diesjährige Demo initiiert hat, vom Verein Otherside für queere Menschen und von Silvia Vetsch, der Leiterin des Frauenhauses in St.Gallen.

Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe

Silvia Vetsch betont, wie auch ihre Vorrednerinnen vom FINTA-Treff, dass es sich beim 8. März um den internationalen feministischen Kampftag handelt, nicht nur um einen netten Frauentag. Sie zitiert eine aktuelle Schlagzeile – «Mutig: Afghaninnen in Kabul demonstrieren für Frauenrechte» – und erinnert daran, dass Frauen weltweit noch immer unterdrückt, vergewaltigt oder getötet werden, einfach weil sie Frauen sind oder sich nicht an vermeintlich geltende Regeln halten.

«Die Vergewaltigungen in der Ukraine haben epidemische Ausmasse angenommen», sagt Vetsch. Auch im Bosnienkrieg in den 90er-Jahren habe es Massenvergewaltigungen gegeben, zehntausende seien betroffen gewesen. «Vergewaltigung ist eine Kriegswaffe! Was kann zynischer und verachtender sein als der Anspruch von Besitz und Macht, nicht nur des gegnerischen Landes, sondern auch von Frauen, Kindern und Menschen.» Kaum jemand könne nachvollziehen, wie viel Leid und Schmerz das verursache, wie viel ungewollte Schwangerschaften.

Silvia Vetsch ist Leiterin des Frauenhauses St.Gallen.

Auch in der Schweiz – wo man sich auf politischer Ebene immer noch nicht zur «Nur Ja heisst Ja»-Regel durchringen kann – gebe es noch viel zu tun. Viele Kinder seien auch hier nicht freiwillig gezeugt worden. Die Zahlen im Bereich häuslicher Gewalt hätten zugenommen, erklärt Vetsch. «Die Auslastung der Frauenhäuser in der Schweiz weisen 2022 ein Rekordhoch auf.»

Vetsch verweist auf die gestiegene Zahl der versuchten und vollendeten Femizide im letzten Jahr, auch hier gehe es wie im Krieg um Besitz und um Macht. «Meist passiert es während der Trennungs- oder Scheidungsphase – also im Moment der Gegenwehr der Frauen.» Zudem seien oft auch Kinder oder Unterstützungspersonen davon betroffen, lange Zeit sei dies beschönigend als «erweiterter Suizid» benannt worden. «Doch es handelt sich um Familienmord.»

«Erst wenn wir fähig werden, das Gegenüber nicht besitzen zu wollen und keine Macht auszuüben beziehungsweise die Gleichstellung aller Menschen unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe usw. zu akzeptieren, haben wir eine Chance auf eine Gesellschaft, die vielleicht irgendwann ohne sexualisierte und häusliche Gewalt auskommt», sagt Vetsch zum Schluss, und die Demoteilnehmer:innen applaudieren und skandieren «Jin, Jiyan, Azadî» – Frau, Leben, Freiheit.

Diese aus der kurdischen Freiheitsbewegung stammende Parole wird immer mehr zum Schlachtruf der Frauen und FINTAs auf der ganzen Welt, ähnlich wie der Song «El violador eres tú!» vom chilenischen Kollektiv Las Tesis. Das passt zu den internationalen Forderungen des diesjährigen feministischen Kampftages, verlesen von den Aktivist:innen des FINTA-Treffs St.Gallen:

  • eine gesellschaftliche Umverteilung der Care-Arbeit, in welcher diese im Zentrum des Zusammenlebens steht statt dem Kapital
  • die Anerkennung von frauen- und queerspezifischen Fluchtgründen
  • sichere, solidarisch finanzierte geschlechtsangleichende Massnahmen und Abtreibungen weltweit
  • Abtreibung raus aus dem Schweizer Strafgesetzbuch
  • berufsfreies Menstruieren und kostenloser Zugang zu Menstruationsprodukten
  • sichere Fluchtrouten und Bleiberechte für alle
  • Nachhaltigkeit und Weitsicht statt Kapitalismus im Gesundheits- und Bildungssystem
  • Schutzräume für von Gewalt betroffene FINTA-Personen
  • Stopp von Femiziden und häuslicher Gewalt weltweit
  • Intersektionale Gerechtigkeit, die sich gegen Rassismus, Queerfeindlichkeit, Klassismus, Ageismus und Ableismus stellt

 

Kurz nach halb sieben löst sich die Demonstration auf. Die meisten ziehen weiter Richtung Grabenhalle, wo die Afterparty steigt. Einige wenige machen sich auf ins Lagerhaus an der Davidstrasse. Dort hat die politische Frauengruppe (PFG) noch zu einer eigenen Veranstaltung geladen, mit zwei Referaten, Diskussion und ebenfalls Disco danach.

Das wirkt etwas kurios, denn in den letzten Jahren war der 8. März gegen aussen hin eigentlich eine recht gemeinsame Sache. Gegenseitig beworben, in den Chats oder den Socials, wurden die beiden 8. Märze auch nicht wirklich. Mais bon, mehr ist mehr, könnte man auch sagen. Zwei feministische Veranstaltungen sind besser als eine.

Diskussionen über feministische Politik

Der Vorteil im Lagerhaus: kein Regen. Stattdessen weisse Tischdecken, Suppe und hoher Besuch aus der Realpolitik. Nationalrätin Claudia Friedl, frisch aus der Session und darum noch in Bern und per Video zugeschaltet, hält ein Referat über feministische Aussenpolitik, welche im Jahr 2000 als UNO-Resolution 1325 mit der Agenda «Frauen, Frieden und Sicherheit» einstimmig festgehalten wurde – so auch das Motto des Abends.

Das Thema feministische Aussenpolitik habe sich aufgrund des Krieges in der Ukraine geradezu aufgedrängt, erklärt Judith Pekarek von der PFG in der Begrüssung. Die UNO-Resolution sei vor über 20 Jahren verabschiedet worden und die Forderungen seien aktueller denn je.

Noch mehr Aktualität hat die Resolution erlangt, als die Deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock kürzlich vorgeprescht ist, indem sie zehn Leitsätze zur feministischen Aussenpolitik formulierte. Wobei sich hier erst noch zeigen muss, inwiefern die relevanten Machtstrukturen wirklich in Frage gestellt werden auf Bundesebene.

Claudia Friedl, die auch in der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats sitzt, freut sich jedenfalls über die Anfrage zu diesem Referat. Das Thema sei für viele immer noch zu abstrakt, sagt sei, dabei gehe es eigentlich sehr konkret vor allem um den Einbezug der Frauen in die verschiedenen Aspekte der Aussenpolitik: Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe, Friedensförderung und Sicherheit und Wirtschaft. Diese sei immer noch extrem männerlastig.

«Nur wenn Frauen mitreden, werden geschlechtsspezifische Auswirkungen von Krisen und Konflikten sichtbar», sagt Friedl. «Der Zustand der Frauenrechte ist ein Gradmesser für den Zustand der ganzen Gesellschaft.»

Feministische Aussenpolitik wolle nahhaltige Transformationsprozesse und Systemänderungen herbeiführen, erklärt sie. Zu den Kernforderungen der ersten Stunde gehörten die «drei R»: Rechte, Repräsentanz und Ressourcen. Mittlerweile sei das Konzept erweitert worden. Mit einem weiteren R für die Realität, also das kulturelle und gesellschaftliche Umfeld, in dem eine Person lebt, und einem D für Diversität, weil es längst nicht mehr nur um Frauen gehe, sondern um den Einbezug und die Mitsprache aller marginalisierten Gruppen.

Diese feministischen Konzepte zur Friedensförderung, Diplomatie, Entwicklungszusammenarbeit oder der humanitären Hilfe seien aber alle nichtig ohne «Politikkohärenz», betont Friedl. «Wir können nicht auf der einen Seite humanitäre Hilfe leisten und auf der anderen Seite Rüstungsexporte in kritische Staaten wie Saudi-Arabien zulassen.» Ähnliches gelte im Klimabereich.

Die Forderung nach dekolonialisierter Politik

Um feministische Entwicklungszusammenarbeit – oder weniger kolonial ausgedrückt: internationale Zusammenarbeit – geht es auch im aufschlussreichen Referat von Alice Froidevaux von Medico international Schweiz.

Zum Einstieg gibt sie einen kurzen historischen Abriss zum «Frauenfokus in der Entwicklungszusammenarbeit». Froidevaux erklärt, wie die Frauen im globalen Süden seit den 1970er-Jahren von reinen Opfern zu leistungswilligen Individuen, sprich Wirtschaftsfaktoren, dann zu empowerten Unternehmerinnen und schliesslich zu aktiven Playerinnen in der feministischen Entwicklungspolitik wurden.

Anschliessend führt Froidevaux drei Punkte einer funktionierenden feministischen Entwicklungszusammenarbeit genauer aus. Auch sie nennt nebst transnationaler Solidarität und aktivem politischen Handeln die «kongruente Aussenpolitik», die nötig wäre.

Im Kern geht es um die Frage, was Entwicklungshilfe überhaupt nützt in einem neokolonialen Wirtschaftssystem. Für jeden Dollar Entwicklungshilfe flössen jährlich 24 Dollar an die sogenannten Geberländer zurück, in Form von Zinsen oder Schulden durch Kapitalflucht, erklärt Froidevaux und stellt fest: «Wenn es eine gerechtere, dekolonialisierte Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik gäbe, bräuchte es überhaupt keine Entwicklungshilfe – im Gegenteil.»

Friedl bestärkt Froidevaux nach ihrem Referat und weist auch ihrerseits nochmals auf die Inkohärenz in der Politik hin. Hier wäre es spannend geworden, oder zumindest sehr konkret. «Friedensbemühungen und Menschenrechtsdialoge müssen angestossen werden, und es braucht eine Entmilitarisierung», sagt Friedl mit Blick auf die feministische Aussenpolitik.

Was wäre ihrer Meinung nach eine kohärente feministische Politik in der Frage um die Waffenlieferungen für die Ukraine? Darauf hat sie keine Antwort gegeben. Leider hat auch niemand aus dem Publikum danach gefragt in der anschliessenden Diskussion. Was schade ist, gab doch der Krieg gegen die Ukraine den Anstoss für dieses lehrreiche Referat.