Knutschen, Koks, Olympia
Die Saiten-Sommerpause verbrachte ich im Inselspital Bern. Ich lag im fünften Stock mit Blick auf den Bremgartenwald, gleich beim Landeplatz für die Rega-Helikopter, die mich trotz einem Dutzend Schmerztabletten und Temesta dauernd aus dem Schlaf rissen. Um die Helikoptergeräusche auszublenden, tat ich das, was ich schon die Wochen davor getan hatte: Ich hörte dauernd Charli XCXs Album Brat, schliesslich war brat summer, I-don’t-give-a-fuck-Sommer, unbekümmert Knutschen und Koksen mit den Besties, dies das.
Aber statt auf Koks war ich high auf Novalgin, Ibuprofen und Paracetamol, und statt mit mir zu knutschen, schrieben mir meine suchterfahrenen Besties, diese Pillenkombi sei etwas wild. «Brat summer lol», schrieb ich und sah mir das Musikvideo zu 360 an, sah Charli und alle anderen Queens der Popkultur, sah die perfekten Augenbrauen, das perfekte Make-up, die Perfektion popkultureller Weiblichkeit und dachte: We are the same. Zumindest wenn mein Chirurg bei der OP alles richtig gemacht hatte. Fingers crossed, my surgeon is an artist.
Sechs Stunden hatte er mir die Augenbrauen ein paar Zentimeter nach oben geschoben, den einen oder anderen Knochen abgeschliffen, die Augen vergrössert. Das Ziel: Dass ich in meinem Alltag nicht mehr dauernd beschimpft, belästigt, bedroht werde. Dass ich weiblicher aussehe, ein bisschen cunty vielleicht, ein bisschen Brat, halt so, wie sich alle eine typische Frau vorstellen – was auch immer das heissen soll.
Als ich nach meiner gesichtsfeminisierenden OP im Bett lag, stritt sich gerade die ganze Welt über diese Frage. Eine Boxerin gewann eine Olympia-Medaille und sah dabei nicht weiblich genug aus für J.K. Rowling oder für Elon Musk, für den «Tages-Anzeiger» oder die NZZ. Und die sahen hier eine Chance, ihre übliche Hetze gegen trans Menschen aufzufahren. Sie spekulierten über Geschlechtsteile, Chromosomen, Hormonhaushalt der Boxerin oder untersuchten ihre Gesichtsmerkmale auf Spuren von Männlichkeit.
Egal, wie meine Gesichtszüge und Geschlechtsteile auch aussehen, egal, wie perfekt weiblich meine Hormonwerte sind – dem Blick einer solchen Öffentlichkeit würde ich nie standhalten. Wäre das nur für Olympia ein Problem, tja, als trans Frau darf ich da eh kaum hin. Aber mein Chirurg hat mich ja nicht für Olympia präpariert, sondern für die Migros-Filialen der Ostschweiz. Damit ich ein Raketenglace kaufen kann, ohne belästigt zu werden.
Im Gegensatz zu Charli XCX schleiche ich mich nicht aufs Klo, um zu koksen, sondern um mich vor Menschen zu verstecken. Aber wenn die OP-Verheilung gut läuft, werde ich vielleicht doch noch meinen brat summer haben, und damit meine ich – als trans Frau wird einem Demut eingeprügelt: ein Raketenglace zu essen, ohne dabei angegriffen zu werden. Knutschen und Koks gibts dann vielleicht im nächsten Jahr – und danach Olympia.
Mia Nägeli, 1991, arbeitet nach einer Journalismusausbildung und ein paar Jahren bei verschiedenen Medien heute in der Musikbranche in der Kommunikation, als Tontechnikerin und als Musikerin.