Kippenberger in Town

Über die Gründe kann man nur spekulieren: Die Ausstellung von Konzeptfotografie im Kunstmuseum zeigt vielleicht zum ersten Mal in St.Gallen ein Kunstwerk von Martin Kippenberger (*1953 Dortmund, gest. 1997 Wien). Die Rede ist von «Through The Looking Brain», der Gruppenausstellung, die zuvor vom 23. Juni bis 25. September in Bonn gezeigte wurde. Vierzehn Jahre nach seinem Tod an einer Lebererkrankung ist es alles andere als ruhig um den ehemaligen Vertreter der jungen Wilden.
Die in St.Gallen gezeigte, 85-teilige Arbeit Psychobuildings war erst kürzlich in London titelgebend für eine Architektur-Ausstellung. Kippenbergers künstlerische Auseinandersetzung mit dem berühmten Floss der Medusa von Gericault von 1819 regt junge Künstler noch immer zur Nachahmung an. Kippenbergers Werke erzielen an den Auktionen schwindelerregende Preise und seine Ausstellungstätigkeit versiegte auch post mortem nicht. Dabei war er ursprünglich eine Art Punk, vielleicht eher Prä-Punk, demontierte den bürgerlichen Kunstbegriff, spottete darüber und provozierte. Eine Zeit lang leitete Kippy in Berlin das SO36, ein Konzertlokal mit Anknüpfung auch an die bildende Kunst. In den achtziger Jahren war Martin Kippenberger eng mit Albert Oehlen befreundet, der heute in Gais und Bühler Wohnsitz und Atelier hat.
Psychobuildings, die in lauter Normrähmchen gesteckten Aufnahmen aus einer Brasilienreise, war Anlass für zwei Buchproduktionen – darunter ein Merve-Bändchen. In der Ausstellung «Through The Looking Brain» kommt Kippenberger neben den meisten anderen Arbeiten völlig unprätentiös daher. Der/die Besucher/in ist versucht, neben den beeindruckenden fotodrucktechnischen Hochleistungen im Kunstmuseum, Kippenbergers Ausstellung in der Ausstellung zu übersehen, die 85 ellipsenförmig auf die Wand gehängten, postkartengrossen, schwarz-weissen und farblich verschossenen Reisefotos des Künstlers. Vielleicht stossen sie das verwöhnte Auge ab. Also Scheuklappen an, an der wirklich tollen Sammlung konzeptioneller Fotografie vorbei und direkt Raum 4 ansteuern.
Schon der Titel von Kippenbergers Konzeptfotoarbeit hat Sprengkraft und korrespondiert aufs Beste mit dem Ausstellungstitel. Darin klingt «Through the Looking-Glass» mit, Lewis Carrolls Nachfolgebuch zu «Alice im Wunderland» (Alice hinter den Spiegeln). Es geht bei Kippenberger um den Innenblick in die Psyche, eine Seelenspiegelung, es geht um Brasilien als gespiegeltes Deutschland. Auf seiner Magical Mystery Tour durch Brasilien begegnete er seltsamen Dingen, die er fotografierte, wie die Autogarage Bormann, die ihn an die Nazigrösse erinnerte.
Die Ausstellung geht noch bis 22. Januar.
von Wolfgang Steiger