Kinderfolter im Namen Gottes

Eine Nonne schlägt ein Schulkind mit einem Stock aufs Steissbein, bis es winselt. Andere Kinder werden mitten in der Nacht ebenfalls von Nonnen aus dem Bett gerissen, in den Waschraum gezerrt und dort kopfüber in einen Wasserkübel getünkelt. Weitere «Erziehungsmethoden»: Nahrungsentzug, Isolationshaft, kalte Duschen, entwürdigende Zwangsposen.
Man denkt unwillkürlich an Waterboarding – aber hier waren es keine US-Soldaten in Guantanamo, sondern Schweizer Nonnen und Heimerzieher, die zu Folterknechten wurden, gedeckt und ermächtigt von Staat und Kirche.
Der Innerschweizer Dokumentarfilmer und Historiker Edwin Beeler erzählt in seinem neuen Film Hexenkinder die Geschichten von fünf Frauen und Männern, die unter solch brutalen Bedingungen in Schweizer Kinderheimen aufgewachsen sind.
Filmemacher Beeler zieht im Film Parallelen bis hin zur Zeit der Hexenverfolgungen, während der auch in der Schweiz Kinder hingerichtet wurden. «Das Zufügen von Leid in Gottes Namen hat die Jahrhunderte überdauert», sagt Beeler. Sein Film wolle zeigen, wie ehemalige Heimkinder noch im 20. Jahrhundert unter dem «religiösen Wahn» leiden mussten.
Eines Menschenrechtes beraubt
Hexenkinder reiht sich ein in eine Aufarbeitungskampagne, die die offizielle und inoffizielle Schweiz seit einigen Jahren im Bereich der sogenannt «administrativ Versorgten» und der Verding- und Heimkinder leistet.
2019 entschuldigte sich beispielsweise Martin Klöti, damaliger Regierungsrat des früheren «Heimkantons» St.Gallen, öffentlich bei den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. «Der Staat hat jahrzehntelang versagt und Grundrechte missachtet», sagte er.
Und die vom Bund eingesetzte «Unabhängige Expertenkommission Administrative Verwahrungen» (UEK) kam 2019 zum Schluss, dass in der Schweiz im 20. Jahrhundert mindestens 60’000 Menschen in Heime oder Anstalten eingesperrt wurden, ohne strafffällig geworden zu sein.
Das ist also in groben Umrissen der historische Hintergrund, vor dem Beelers Film spielt – nur leider lässt der Regisseur diesen fast komplett weg. Er fokussiert auf die Einzelschicksale von fünf Frauen und Männern, die im Film abwechselnd ihre Geschichte erzählen.
St.Galler Premiere in Anwesenheit des Regisseurs Edwin Beeler und der Protagonistin MarieLies Birchler: 17. September, Kinok. Das Gespräch führt der Filmjournalist Geri Krebs.
Die Offenheit, mit der die fünf offensichtlich Gezeichneten berichten, ist beeindruckend, doch einiges an Kontext für das Publikum wird leider erst im Abspann geliefert. Es gibt zwar eingestreute Interviews mit Historikern und Archivaren, doch diese machen für Unwissende nicht deutlich, wie systematisch die schlechte Behandlung von sozial unerwünschten Kindern und Erwachsenen in der Schweiz betrieben wurde.
Dafür schafft Beeler, der die Pausen zwischen den bedrückenden Berichten immer wieder mit wild-schönen Naturbildern füllt, einen Geschichtensog, der die Zuschauer nicht mehr loslässt.
Ein «anwaltschaftlicher» Film
Da ist etwa MariLies Birchler (1950), die im Kinderheim Einsiedeln aufwuchs. Als sie acht war, begannen ihr die Nonnen einzureden, sie sei vom Teufel besessen. «Jahrelang wurde mir das eingetrichtert. Und ich habe es geglaubt», erzählt Birchler.
Später, als Erwachsene, wurde sie von ihrer Kindheit und Jugend verfolgt. «Ich war jahrelang suizidal. Bis ich mich bewusst fürs Leben entschieden habe.» Der Film zeigt Birchler heute als starke, kinderliebende Frau.
Auch andere Protagonisten wie etwa Willy Mischler (1957), der mit seinen drei Brüdern seinen «unreifen und unvernünftigen Eltern» (Zitat der Vormundschaft von 1965) weggenommen wurde und in einem Kinderheim in Laufen aufwuchs, haben sich scheinbar von ihren dunklen Anfangsjahren gelöst. «Als ich mit 15 aus dem Heim kam, sagte ich mir: Dieses Leid lasse ich hinter mir», sagt Mischler, der heute selbständiger Unternehmer ist.
Und doch: Beim Erzählen und Erinnern werden Mischler und anderen Ex-Heimkindern immer wieder die Stimmen brüchig, Tränen steigen in die Augen. «Eine unbeschwerte Kindheit zu haben ist doch ein Menschenrecht», sagt Mischler.
Vertreter der Kirche selber kommen im Film nicht zu Wort. «Mein Film will nicht die Institution Kirche anprangern, sondern persönliche Geschichten erzählen», sagt Beeler dazu. Sein Filmschaffen sei «anwaltschaftlich» und immer auch von persönlichen Erlebnissen geprägt, sagt er, der in bescheidenen Verhältnissen in einem Innerschweizer Dorf aufwuchs.
Hexenkinder ist ein weiterer Mosaikstein in der Aufarbeitung einer der dunkelsten Kapitel der neueren Schweizer Geschichte.