Kellers Löwen
In der Mitte im Rollstuhl der «Alibikrüppel», rund um ihn 16 Stehende. Das Haus nicht barrierefrei, die Website ebenso wenig. Das Center for Disability and Integration (CDI) der HSG ist Christoph Keller ein Dorn im Auge: will Forschung zur «erfolgreichen Arbeitsmarkt-Integration» von Menschen mit Behinderung treiben und ist selber das Gegenteil von integrierend.
Keller kritisiert die HSG dafür einmal mehr in seinem neusten, eben erschienenen Buch. Und dies pikanterweise in der «Höhle des Löwen», an der HSG selber: Das Buch macht die drei Vorlesungen öffentlich, die Keller im September und Oktober 2020 an der St.Galler Universität gehalten hat.
Das vierte Kapitel ist die Dankrede zum Alemannischen Kulturpreis, den Keller diesen Sommer erhalten hat. Sie gilt seinem jüngsten Buch Der Boden unter den Füssen und seiner Utopie eines «Zivilisationsmoratoriums»: Der «wahnsinnigen» Umwelt-Zerstörungswut des Homo sapiens setzt Keller das Idealbild des «planetarischen Gartens» entgegen, hofft auf «Bibervernunft» und «Igelwörter».
Besichtigung des eigenen Werks
Die HSG-Vorlesungen reflektieren seine Schreibmethoden, seine Vielsprachigkeit, Vorbilder, die Kunst des Plagiierens und anderes mehr. Und sie sind, wie Kellers Bücher Der beste Tänzer oder Jeder Krüppel ein Superheld und wie seine öffentlichen Wortmeldungen, ein weiteres stimmgewaltiges Plädoyer gegen eine Welt, in der «Behinderung von Nicht-Behinderten verwaltet» wird.
Keller, wegen seiner progressiven Muskellähmungs-Krankheit im Rollstuhl, weiss, wovon er spricht. Und kritisiert, dass dieses Wissen so wenig gefragt ist – erst recht in der Pandemie hätte man vom Knowhow der «Isolationsgeübten» und «Quarantäneexperten» profitieren können und müssen.
Dazu passt das afrikanische Sprichwort, das er zum Auftakt seiner dritten Vorlesung zitiert und das dem Buch den Titel gegeben hat: «Solange die Löwen nicht schreiben lernen, wird jede Geschichte die Jäger verherrlichen.»
Einer, der nicht weggelobt werden will
Über die Diskriminierung von Behinderung müsse in der Schweiz endlich offen gesprochen werden, und dies nicht um sie «abzuhaken», sondern als Teil «einer allgemeinen Diskussion über Rassismus und Diskriminierung», fordert Keller.
Buchpremiere: 13. September 20 Uhr Kellerbühne St.Gallen
In diesem Sinn hatte er unter anderem auch Bundespräsidentin Sommaruga einen Offenen Brief geschrieben – die ihm postwendend für seinen Einsatz dankte. «Und schon war ich weggelobt», sagt Keller in seiner Vorlesung bissig. Er wird sich weiter dagegen wehren, mit Löwenstimme.
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Illustriert ist das Buch mit den «Schattenmann»-Fotos, die Keller im Lockdown geschaffen hat und die als Auswahl in der «Blackbox» auf saiten.ch erschienen sind.