«St.Gallen ist keine Stadt für alle»

Hinter dem ausgebüxten Stern der St.Galler Weihnachtsbeleuchtung steckt eine Gruppe, die auf die Situation von Sans-Papiers aufmerksam machen will. Im Interview erklären zwei Beteiligte, was Sans-Papiers brauchen und warum St.Gallen seinem Image nicht standhält.

Sai­ten: En­de No­vem­ber ist Stern 027 der St.Gal­ler Weih­nachts­be­leuch­tung ver­schwun­den. Spä­ter mel­de­te er sich mit Post­kar­ten und auf In­sta­gram, dass er in Bern und So­lo­thurn ist. Wo ist er jetzt?

Li­nus*: Das sa­gen wir nicht. Er ist, wie er selbst an­ge­kün­digt hat, auf Rei­sen. Was wir sa­gen kön­nen, ist, dass er zu­rück­kom­men wird.

Wie kam es zur Idee, ei­nen Stern der Weih­nachts­be­leuch­tung auf Rei­sen zu schi­cken?

Ma­rie*: Die Dring­lich­keit ist of­fen­sicht­lich. Sans-Pa­piers wer­den Men­schen­rech­te ab­erkannt. Dar­auf müs­sen wir auf­merk­sam ma­chen. Oft kön­nen sie das nicht selbst oder zu­min­dest nicht mit ih­rem ei­ge­nen Na­men tun. Des­we­gen brauch­te es ei­ne Ver­mitt­lungs­fi­gur, den Stern027.

L: Wir fin­den die Vor­stel­lung auch schön, dass die­se Ster­ne viel se­hen, wenn sie über ei­ni­ge Wo­chen hin­weg über uns hän­gen. Die Ster­ne se­hen Men­schen in Not, die kei­ne Hil­fe be­kom­men. Oder Men­schen, die kei­nen Lohn er­hal­ten oder de­ren das Recht auf Bil­dung ein­ge­schränkt wird.

Wie ein­fach war es, an die­sen Stern her­an­zu­kom­men? Brauch­te es Vit­amin B?

L: Nein. Es wa­ren ein­fach die rich­ti­gen Men­schen zur rich­ti­gen Zeit am rich­ti­gen Ort. Das Bild, das in den Me­di­en skiz­ziert wur­de, dass je­mand mit ei­nem 2 Me­ter gros­sen Stern un­term Arm durch die Stadt läuft, kommt viel­leicht doch recht nah an die Rea­li­tät.

Die Al­ler­Stern-Er­fin­der Mar­tin Schmid und Jo­nas Knecht wun­der­ten sich im In­ter­view mit Sai­ten, war­um nicht viel frü­her je­mand auf die Idee ge­kom­men ist, ei­nen Stern zu klau­en. Sie wür­den als per­fek­te Bot­schaf­ter für die Stadt tau­gen. Nun sind sie Bot­schaf­ter für Sans Pa­piers. 

M: Und da­für taugt un­ser Stern auch per­fekt. An Weih­nach­ten wird viel von Zu­sam­men­halt und So­li­da­ri­tät schwa­dro­niert. Da­bei ist die­ses Ge­re­de lei­der sehr weit weg von der Rea­li­tät. Vor al­lem von der Rea­li­tät von Sans-Pa­piers. Sie sind oft un­sicht­bar und pas­sen nicht in das Bild der ge­müt­li­chen Weih­nachts­zeit. Des­we­gen sind der Zeit­punkt und die Fi­gur des Sterns so pas­send. Der Stern soll un­ser Ver­ständ­nis von So­li­da­ri­tät er­wei­tern und for­dert, den Be­griff kon­se­quen­ter zu den­ken.

Der Kan­ton St.Gal­len hat den Slo­gan «Ei­ner für al­le», die städ­ti­sche Stand­ort­för­de­rung wirbt ger­ne mit «Sankt Al­le». Wird St.Gal­len die­sem Image ge­recht?

L: Nein. Und da hilft auch der Na­me der Weih­nachts­be­leuch­tung nicht. St.Gal­len ist kei­ne Stadt für al­le, auch wenn sie sich ger­ne so dar­stellt. Da­für bräuch­te es noch ei­ni­ge Ver­än­de­run­gen in der Po­li­tik und der Ge­sell­schaft.

M: Das Pos­tu­lat für ei­ne Ci­ty Card ist bei­spiels­wei­se noch hän­gig, Son­ja Lü­thi be­müht sich nicht um ei­ne Ant­wort. Ei­ne sol­che Kar­te wä­re für Sans-Pa­piers ei­ne Er­leich­te­rung. Doch wenn es der Stadt­rat nicht mal schafft, die Mach­bar­keit zu über­prü­fen, ist das pein­lich. Wir sind weit weg von ei­ner Stadt für al­le.

Zü­rich hat ei­ne Ci­ty Card, an­de­re Städ­te dis­ku­tie­ren dar­über. Ist in St.Gal­len al­so wie ge­wöhn­lich al­les et­was lang­sa­mer?

M: Ge­ne­rell bleibt das The­ma Sans-Pa­piers in der die Po­li­tik oft un­be­ach­tet.  Po­li­ti­ker:in­nen müs­sen nicht um ih­re Wahl­stim­men buh­len. Vie­le glau­ben, dass es sie nichts an­geht. 

L: Da­bei leis­ten Sans-Pa­piers wich­ti­ge Bei­trä­ge für die Ge­sell­schaft. Vie­le ar­bei­ten bei­spiels­wei­se in sys­tem­re­le­van­ten Bran­chen. Wir sind auf sie an­ge­wie­sen.

M: Die Ci­ty Card wä­re ei­ne Mass­nah­me, doch in St.Gal­len müss­ten wir auch über ei­ne lang­fris­ti­ge Fi­nan­zie­rung von An­lauf­stel­len und Struk­tu­ren für Sans-Pa­piers re­den. Es braucht un­ab­hän­gi­ge Be­ra­tungs­an­ge­bo­te für Sans-Pa­piers. Die­se müs­sen be­zahlt sein. An­de­re Städ­te sind da wei­ter. In Genf bei­spiels­wei­se gab es vor ein paar Jah­ren die Ope­ra­ti­on Pa­py­rus. Da wur­de der Auf­ent­halts­sta­tus von hun­der­ten Men­schen prag­ma­tisch le­ga­li­siert. Da­mit half man nicht nur den Men­schen, die von Schwarz­ar­beit be­trof­fen wa­ren. Es war auch ei­ne sinn­vol­le Mass­nah­me ge­gen Lohn­dum­ping. 

Ihr habt auf In­sta­gram Posts ver­öf­fent­licht, die auf ver­schie­de­ne Pro­ble­me auf­merk­sam ma­chen, mit de­nen Sans-Pa­piers im All­tag kämp­fen. Ei­nes da­von ist das The­ma Aus­beu­tung bei der Ar­beit.

M: Wir kön­nen über die of­fen­sicht­lichs­ten Hin­der­nis­se, die Sans-Pa­piers in den Weg ge­legt wer­den, be­rich­ten. Am bes­ten ist es aber, Be­trof­fe­nen di­rekt zu­zu­hö­ren. Schät­zungs­wei­se sind 80 bis 90 Pro­zent der Sans-Pa­piers hier er­werbs­tä­tig. Vor al­lem in der Land­wirt­schaft, im Bau, der Gas­tro­no­mie, im Sex­ge­wer­be und in Pri­vat­haus­hal­ten. Wenn der Lohn nicht aus­ge­zahlt wird oder bei an­de­ren For­men von Aus­beu­tung, zie­hen sie im­mer den Kür­ze­ren. Sans-Pa­piers sind ab­hän­gig vom Good­will der Ar­beit­ge­ben­den. Recht­li­cher Schutz ist et­was Fun­da­men­ta­les, das Sans-Pa­piers fehlt. Sie kön­nen sich nicht aus­wei­sen bzw. lau­fen sie so Ge­fahr, aus­ge­schafft zu wer­den.

Der recht­li­che Schutz fehlt auch bei der Ge­sund­heits­ver­sor­gung.

M: Sans-Pa­piers ha­ben auch das Recht auf ei­ne Kran­ken­ver­si­che­rung, be­zie­hungs­wei­se sind sie da­zu ver­pflich­tet. Vie­le Kran­ken­kas­sen er­schwe­ren aber den Zu­gang für Sans Pa­piers oder wis­sen nicht ein­mal, dass sie von Ge­set­zes we­gen auch Sans-Pa­piers ver­si­chern müss­ten.

L: Und dann kom­men na­tür­lich die ho­hen Prä­mi­en. Die­se sind für vie­le ei­ne Her­aus­for­de­rung, be­son­ders für je­ne, die in Bil­lig­lohn­sek­to­ren ar­bei­ten. Und im Ernst­fall wis­sen Sans-Pa­piers oft im­mer noch nicht, ob sie die not­wen­di­ge Hil­fe er­hal­ten, wenn sie sich im Spi­tal nicht nor­mal aus­wei­sen kön­nen.

M: Das Pro­blem wur­zelt noch viel tie­fer. Dass Sans-Pa­piers oft schlecht be­zahl­te Ar­beit leis­ten, hängt auch mit dem ei­ge­schränk­ten Zu­gang zu Bil­dung zu­sam­men. Häu­fig wer­den Bil­dungs­di­plo­me von Sans-Pa­piers hier nicht an­er­kannt. Oft wird ih­nen der Zu­gang zu Bil­dung oh­ne Aus­weis ver­wehrt, ge­ra­de bei hö­he­ren und wei­ter­füh­ren­den Schu­len. Und dann gibt es im­mer wie­der Fäl­le, wo das feh­len­de Geld die Men­schen zum Bei­spiel zu ei­ner Leh­re zwingt, ob­wohl sie ei­gent­lich aufs Gym­na­si­um könn­ten. Im Buch Von der Kraft des Durch­hal­tens der Sans-Pa­piers-Kol­lek­ti­ve Ba­sel sind ganz vie­le die­ser Bei­spie­le zu fin­den. 

Ge­set­ze müs­sen sich al­so än­dern. Was ist mit der Ge­sell­schaft?

L: Sie ist ge­prägt von na­tio­na­lis­ti­schem Den­ken. Wo die Men­schen ih­ren Le­bens­mit­tel­punkt ha­ben, ist doch viel wich­ti­ger als ih­re Her­kunft.

M: Und die Leu­te müs­sen ka­pie­ren, dass Sans-Pa­piers ei­ne ge­sell­schaft­li­che Rea­li­tät sind. Von rechts wird ger­ne Angst vor Mi­grant:in­nen ge­schürt. Das ist ge­fähr­lich. Wir müs­sen un­se­re all­täg­li­chen Be­rüh­rungs­punk­te zu Sans-Pa­piers wahr­neh­men.

Der Stern027 kommt al­so zu­rück. Wann?

M: Das se­hen wir bald.


*Na­men von der Re­dak­ti­on ge­än­dert.