«Ke Ahnig»

Am Anfang ist der Aufbruch. Julia fährt an den Ort ihrer Kindheit, um ihren Freund aus Kindertagen zu treffen. «Jetz bini do», sagt sie zur Begrüssung. Sie muss es zwei Mal sagen, damit Martin es glaubt. «Isch‘s grad unglege?», fragt sie. Das erste, was man von ihm hört, ist nicht ins Hochdeutsche übersetzbar: ein Verneinungslaut in der ganzen bockigen Musikalität des Appenzellerdialekts. Beide sind verlegen. Die Pausen zwischen den Fragen nach dem Allgemeinbefinden scheinen elend lang. Die Antworten kommen schnell, zu schnell.
Und schon taucht beim Hören das erste Mal das Gefühl auf, das immer mal wieder kehrt: Man hat ein wenig Angst um die beiden. Wie lange kann das gut gehen? Und was passiert, wenn es nicht mehr gut geht?
Kindertage, Geheimnisse und das Meer
Weil das so ist, versetzt einen die Eröffnungsszene in eine Dauerspannung. Irgendwann, so fürchtet man, ist dieses Hin und Her – wortreich bei Julia, wortkarg bei Martin – aus dem mundartlichem Floskelvorrat erschöpft. Aus allem, was die beiden nicht sagen, spricht eine Sehnsucht. Aber nach was? Julia fordert von Martin gegen Schluss des letzten Teils schreiend: «Red emol Klartext.»
Was kommt beim «Klartext», der immer mal wieder gesprochen wird, zum Ausbruch? Rebecca C. Schnyder sagt: «Beide behaupten, so wie es in ihrem Leben ist, ist es schon gut. In der Begegnung miteinander bröckelt das.» Dann gucken die kleinen Lebenslügen hervor.
Um was geht es? Die Autorin mache «eine Art Langzeitbeobachtung» von zwei jungen Erwachsenen, schreibt SRF. Julia und Martin verbindet bis im Alter von zwölf Jahren eine Kinderfreundschaft. Sie teilen den Stoff, aus dem eine Kindheit ist: magische Erlebnisse und die Ahnung familiengeschichtlicher Geheimnisse. Dann zieht Julias Familie aus dem Appenzellerland weg, es bleiben die Erinnerungen.
Zwölf Jahre später kommt Julia an den Aufwachsort zurück. Der Hof gehört nun Martin. Auf die erste Begegnung folgt acht Jahre danach eine zweite: Julia nimmt Martin mit nach Italien ans Meer. Nach drei Jahren taucht sie wieder auf, nun mit einem Sohn. Ist Martin, bei dem unterdessen seine Partnerin Marlis lebt, der Vater?
Die Schlusspassagen der ersten beiden Teile gleichen sich. «Gueti Fahrt» wünscht Martin der gegen seinen Wunsch in «die Stadt» zurückfahrenden Julia. Wie in vielen anderen Passagen schwingt eine Doppelbedeutung mit: Die Fahrt durchs Leben ist mitgemeint. Während bei den Folgen 1 und 2, Öber em Tal (erschienen 2013) und Dune am Meer (2018) die Wendung «Drunter und Drüber» anklingt, tönt der Abschlusstitel Zmittst drin nach Ankunft. Ein Happy End also? Rebecca C. Schnyder lacht. «Diesen Wunsch haben Hörerinnen und Hörer immer wieder geäussert, als klar war, dass es einen dritten Teil gibt.»
Appenzellisch melodiös, sanktgallisch spitz
Mit diesem Plot werden Lebensthemen verhandelt. Julia ist auf der ganz normalen anstrengenden Suche nach dem Lebenssinn. Was findet sie? «I weiss woni herchumm, aber i ha kei Ahnig woni häre söll» ist einer der Schlüsselsätze für ihre Befindlichkeit und treibendes Moment der ganzen Geschichte. Martin hingegen ist auf dem Hof «dihei», dort ist er sein «eigener Chef». Das «Hemet» und das Unterwegssein, das sind ihre verschiedenen Zuhause.
So scheinen die Rollen verteilt und die Lebensentwürfe gemacht: Moderne Schweiz und Urschweiz, Stadt und Land stehen sich als unvereinbare Modelle gegenüber. Aber bei Rebecca C. Schnyder bewegen sie sich. In der Begegnung verhandeln Martin und Julia die grossen Lebensthemen Liebe, Beruf, Kinder, Familie, Tod, Gerechtigkeit. Rasch fühlen sie sich angegriffen, gehen in die Abwehr und den Gegenangriff. Manchmal rutschen sie in Streit und Versöhnung der Kindertage zurück.
Öber em Tal, Dune am Meer, Zmittst drin: Hörspieltrilogie von Rebecca C. Schnyder, Podcasts auf SRF
Ausstrahlung von Zmittst drin: Freitag, 25. Juni, 20 Uhr, SRF 1
All das geht wunderbar in der Mundart. Appenzellisch melodiös und Sanktgallisch spitz fliesst die Konversation, wie sie im richtigen Leben laufen könnte. Aber im Unterschied zur üblichen Alltagskonversation springt einen immer wieder eine existenzielle Bedeutung an.
Wie schafft die Autorin das? «Ein Tiefenraum hinter dem, was Figuren sagen, ist in allen meinen Arbeiten sehr präsent.» Bei der Hörspieltrilogie gibt sie dem Dialekt eine Hauptrolle und hat sehr genau hingehört, wie in der Ostschweiz gesprochen wird. Sanktgallisch und Appenzellisch erweisen sich als präzise Instrumente der Erkundung von Befindlichkeiten.
Erotik, Charme, Verletzendes, Wut: Das schwingt laufend mit. Wenn Julia über Marlis als «Fraueli» redet, ist das eine Abwertung, die mit einem Wort abgründiger ist als es ein Monolog sein könnte. «Ke Ahnig», diese Alltagswendung, wird zu einem Running Gag und Kitt zwischen den beiden – und benennt zugleich die offene Zukunft und ein aktuelles Lebensgefühl.
Musik schafft Atempausen
Damit die Trilogie mit ihren je rund 50minütigen Episoden einen solchen Sog entwickelt, braucht es nochmals drei Elemente. Die Musik verstärkt die jeweiligen Stimmungen, schafft aber auch Atempausen, während denen Dialoge im Kopf weiter laufen. Mit Jeanne Devos und Philipp Langenegger als Julia und Martin kann man die hiesigen Dialekte bis tief in Klangfarbe und Sprachduktus hinein entdecken. Grossen Einfluss hat auch, was nicht direkt hörbar ist. «Die enge und gute Zusammenarbeit mit dem Regisseur Reto Ott hat grossen Anteil an der sprachgenauen und figurengetreuen Umsetzung», sagt die in der Stadt St.Gallen lebende Rebecca C. Schnyder.
Schön ist für sie zudem, dass Zmittst drin mit der erstmals in der Hörspielarbeit von SRF eingesetzten binaurealen Aufnahmetechnik realisiert wurde. Sie schafft verblüffende Klangeffekte.