, 7. November 2017
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Karriere wollen sollen?

Hannah S.* vom Forum für kritische Soziale Arbeit (KRISO) und Roman Rutz von der Studierendenorganisation Soziale Arbeit an der FHS St.Gallen (SOSA) über die «Lange Nacht der Kritik» in St.Gallen.

Die «Lange Nacht der Kritik» letztes Jahr in Zürich. (Bild: langenachtderkritik.ch)

Saiten: Am 16. November findet zum vierten Mal die «Lange Nacht der Karriere» statt, eine gemeinsame Veranstaltung von 14 Schweizer Hochschulen. Ihr lanciert mit der «Langen Nacht der Kritik» eine Gegenveranstaltung in St.Gallen. Was ist die Idee dahinter?

Hannah S.*: Die «Lange Nacht der Kritik» ist aus den ehemaligen «linken Hochschultagen» entstanden und hat letztes Jahr zum ersten Mal als Gegenveranstaltung in Zürich stattgefunden. Die Idee hat uns – der KRISO und der SOSA – sehr gefallen, weil wir uns ebenfalls am Konzept der «Langen Nacht der Karriere» stören, und so haben wir dieses Jahr in St.Gallen ebenfalls eine «Lange Nacht der Kritik» organisiert. Insgesamt sind es nun vier Städte: Zürich, Bern, Basel und St.Gallen.

Roman Rutz: Wir kritisieren vor allem den Karrierebegriff, auf den sich alles konzentriert. Auf der einen Seite steht die Bildung, wo es ja darum geht, sich Wissen anzueignen, gut zu argumentieren und Sachverhalte und Meinungen kritisch zu hinterfragen. Auf der anderen Seite ist die Karriere. An der «Langen Nacht der Karriere» geht es vor allem darum, zu lernen, wie man sich am besten verkauft, was man den Firmen und Institutionen sagen muss, um möglichst positiv aufzufallen. Das ist ein grosser Gegensatz.

Hannah S.: Es gibt da zum Beispiel ein «CV-Fotoshooting», wo man professionelle Bewerbungsfotos machen lassen kann. Das würde ja noch gehen, aber muss man sich dafür echt schminken und pudern? An welches Geschlecht richtet sich denn das Schminkangebot? Und muss man das Ganze allen Ernstes noch mit einem Wettbewerb verknüpfen? Diese Konkurrenzlogik ist unsäglich.

Was ist denn schlecht daran, Karriere zu machen?

Hannah S.: Wir kritisieren nicht die «Karriere» im Sinn einer beruflichen Biographie, sondern die Ideologie, die heute hinter diesem Begriff steckt und mit dieser Veranstaltung ausgedrückt wird: der gesellschaftliche Aufstieg und die dazugehörige Botschaft, dass man «alles erreichen kann, wenn man nur fest genug will». Alles ist auf diese vermeintliche Karriereleiter ausgelegt. Der erfolgreiche Aufstieg wird als oberstes Lebensziel angepriesen. Leistung, sogar bis zum Burnout.

Roman Rutz: Was die Folgen einer solchen Laufbahn sein können in unserer wettbewerbs- und leistungsorientierten Gesellschaft, wird ja kaum thematisiert. «Spiel mit!», ist das Motto: «Alle gegen alle, Ellbogen raus und ab zum Bewerbungs-Coaching.» Dabei könnte man sich auch einmal Gedanken machen, wie eine alternative Karriere aussehen könnte – eine individuelle Laufbahn ohne Aufstiegszwang.

Lange Nacht der Kritik:
16. November, 18 bis 21 Uhr Fachhochschule St.Gallen, danach Palace St.Gallen.

Infos und Programm: hier.

Steht eurer Programm inzwischen?

Roman Rutz: Ja, Anfang Woche haben wir gerade noch die Zusage für den abschliessenden Teil erhalten, der im Palace stattfinden wird. Die Karriereverweigerer Anselm Lenz und Hendrik Sodenkamp aus Berlin kommen zu Besuch. Sie gehören zum Kollektiv «Haus Bartleby», das kürzlich Das Kapitalismustribunal herausgegeben hat und davor das Buch Sag alles ab! – Plädoyers für den lebenslangen Generalstreik. Wir denken, dass sie sehr gut in unser Programm passen, da sie inhaltlich fundiert Karrierekritik betreiben und dabei auch noch für Unterhaltung sorgen. Ideal also für den Abschluss des Abends – und für ein breites Publikum.

Ein Programmpunkt lautet «Bildung und Kritik – Anmerkungen zum Kritikpotenzial des Bildungsbegriffs». Was soll dort diskutiert werden?

Hanna S.: Ehrlich gesagt, wissen wir das gar nicht so genau. Herbert Meier, ein langjähriger Dozent des Fachbereichs Soziale Arbeit gestaltet diesen Beitrag. Wir sind uns sicher, dass der Inhalt und die anschliessende Diskussion mit ihm interessant sind. Früher war er einer der wenigen wirklich kritischen Dozierenden in unserem Fachbereich. Er hat so manche von uns zu kritischem Denken herausgefordert und dadurch gewissermassen auch politisiert. Seinen Beitrag zur Frage des Bildungsbegriffs erachten wir auch darum als sehr wichtig. Gerade an der Fachhochschule ist es ja nicht selbstverständlich, Bildung zu fordern, da der Auftrag auf die Berufsbefähigung beschränkt ist. Bildung ist aber mehr als das, unter anderem umfasst sie eben kritisches Denken, das dann hoffentlich in Handeln mündet.

An der «Langen Nacht der Kritik» geht es auch um den «Arbeitstag damals und heute». Früher war ja bei weitem nicht alles gut, oder anders gefragt: Was kritisiert ihr an den sogenannt modernen Arbeitsverhältnissen?

Hannah S.: Bei diesem Block geht es um den Wandel der Arbeitsbedingungen im Kapitalismus. Durch die Industrialisierung ist die Arbeit ja stark rationalisiert und extrem produktiv geworden. Als Kampf gegen die damit verbundene «Entfremdung» forderten Arbeitnehmende und Gewerkschaften in den 60er- und 70er-Jahren menschlichere Formen der Arbeit. Über Team- und Projektarbeit, Partizipation und den Einbezug von persönlichen Eigenschaften etc. sollte die Arbeit den Menschen wieder nähergebracht werden. Die Erkenntnis: Die Leute arbeiten produktiver und effizienter, obwohl tatsächliche Mitbestimmung kaum zugelassen wird. Die Arbeitsbedingungen von früher und heute unterscheiden sich zwar, im Kapitalismus waren und bleiben sie aber auf Konkurrenz und Gewinn ausgerichtet. Moderne Arbeitsverhältnisse verschleiern diese Tatsache. Bezeichnend für die heutige Zeit ist auch, dass die Grenzen zwischen Arbeits- und Privatleben verschwimmen: Der Mensch muss völlig flexibel funktionieren und permanent an sich selber arbeiten, sich verwertbar weiterentwickeln und so weiter. Das kann in Selbstausbeutung enden.

An der FH zeigt ihr zum Schluss noch Carmen Losmanns Film Work Hard Play Hard, bevor es im Palace weitergeht. Worum geht es da?

Roman Rutz: Die Dokumentation zeigt unter anderem, was der Arbeitswettbewerb mit den Menschen macht. Es gibt einige eindrückliche Szenen von Bewerbungsgesprächen und sogenannten Assessments mit mehreren Runden. So sieht man, was viele Menschen für ihren «Traumjob» und ihre Karriere durchmachen – freiwillig. Der Film verdeutlicht sehr gut, was mit dem «Totalitarismus der Arbeitswelt» gemeint ist.

 

Ihr wollt auch «Werte und Haltungen an (Fach-)Hochschulen am Beispiel der Fachhochschule St.Gallen» diskutieren. Was heisst das konkret?

Roman Rutz: Es gibt innerhalb der FH sehr viele Papiere, die den Umgang untereinander regeln oder die Leitlinien für Mitarbeitende thematisieren. Diese wollen wir genauer untersuchen und schauen, welche Werte und Haltungen konkret vermittelt werden. Dabei wollen wir nicht nur die Begrifflichkeiten und Ideologien hinter den Papieren kritisch betrachten, sondern auch über Auswirkungen diskutieren, die solche Leitlinien haben, letztlich auch für die Studierenden. Und natürlich deren Entstehungswege: Ständig wird von Partizipation geredet, aber vieles in den internen Papieren wurde gar nie zu Ende diskutiert.

Bleiben wir bei den Werten und Haltungen. Hannah, du willst anonym bleiben. Warum?

Hannah S.: Das hat vor allem mit der KRISO zu tun. Wir verstehen uns als Kollektiv und schreiben und entwickeln unsere Fach- und Diskussionsbeiträge zusammen. Einzelne Namen sind da nicht so wichtig. Ich will auch nicht, dass man meinen Namen googelt und gleich sieht, dass ich in der KRISO aktiv bin, denn es gibt viele Vorurteile uns gegenüber, auch von potenziellen Arbeitgebern. Um aber die Praxis verändern zu können, muss man Teil einer Praxis sein.

Roman Rutz: Das Misstrauen der KRISO gegenüber erscheint in der Tat gross. Auch die Fachhochschule hat uns Auflagen gemacht für die «Lange Nacht der Kritik»: Es dürfen zum Beispiel keine diffamierenden oder verletzenden Äusserungen über Organisationseinheiten und Mitarbeitende der Fachhochschule gemacht werden. In dieser Formulierung schwingen bereits Unterstellungen mit, die uns aber fernliegen. Ich stelle immer wieder fest, dass der Kritikbegriff offenbar durchwegs negativ konnotiert ist bei gewissen Institutionen. Dabei ist doch das Üben von Kritik in den Wissenschaften und in der Bildung eine sehr wesentliche Komponente, zumal sie auch das Denken und die eigene Entwicklung anregt. Immerhin hat es die Schulleitung jetzt geschafft, in ihrem internen Bulletin beide Nächte zu erwähnen, jene der Karriere und jene der Kritik.

Hannah S.: Solche Vereinnahmungen deute ich als «Integration der Opposition» – eine alte Strategie der Mächtigen.

*Name der Redaktion bekannt

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