Kamin im Kasten

Der Countdown läuft: Die vorletzte Ausstellung im Schaukasten Herisau ist installiert, und ihr Thema ist ebenfalls ein Ende, nämlich dasjenige vom Kamin der Zielfabrik Appenzell. Christian Ratti erzählt die Geschichte weiter.
Von  Kristin Schmidt
Roman Signer betrachtet Christian Rattis Schaukasteninstallation. Foto: Hannes Thalmann

Im Jahre 1948 war der alte Schornstein der Zielfabrik Appenzell so baufällig, dass er zur Gefahr wurde. Also traten die Appenzeller Feuerwehrleute an, um ihn zu beseitigen, jedoch nicht mit einem Sprengsatz, sondern mit Seil und Muskelkraft. Diese Episode in der Appenzeller Ortsgeschichte war längst vergessen, einfach verdrängt durch so vieles, was danach kam. Ein Kamin weniger, na und?

Wiederauferstanden ist er nicht, der Kamin der Zielfabrik. Aber im Schaukasten Herisau sind nun die Fotografien der handfesten Umsturzaktion zu sehen. Das Ganze ist recht übersichtlich, sind es doch nur vier Schwarzweissbilder im ansonsten weissen Kasten. Von der grössten jedoch – sie zeigt den Moment, als der obere Teil des Schornsteines kippt – zieht sich statt des Seiles der Feuerwehr eine zarte, unscheinbare Linie aus handgeschriebenen Notizen über die gesamte Schaufensterbreite. Sie sind es, die aus der Kamingeschichte eine Kunstgeschichte machen – ästhetisch und inhaltlich.

Der Zürcher Künstler Christian Ratti erzählt auf der Glasscheibe in knappen Worten von denkwürdigen Umständen rund um den Kaminsturz und danach. Eine grosse Portion Zufall gehört auch dazu, so etwa das Zusammentreffen von Ratti und Roman Signer bei einer Bahnfahrt und die dabei entdeckte gemeinsame Faszination an den hoch aufragenden Wegweisern der Industriearchitektur – im Bild oben besichtigt Signer Rattis Schaukasteninstallation (Bild: Hannes Thalmann).

Ausserdem braucht es Gespür für das Potential eines Zufalles, und Lust auf eine gute Geschichte, selbst wenn deren Ausgang noch im Ungewissen liegt. Und es braucht Ausdauer und viele Blicke über den Tellerrand. Es braucht einen wie Christian Ratti. Er ist kein Atelierkünstler, sondern einer, der unterwegs ist und dessen Kunstbegriff so offen ist, dass er neue Wissenschaftsgebiete begründet oder bestehende an ungewohnten Orten ausübt. So wurde beispielsweise das Zeughaus Teufen Ort und Anlass seiner Fledermausforschungen und botanischer Landschaftseingriffe. Ratti recherchiert, erzählt, geht weit über die auslösenden Momente und vorgefundenen Geschichten hinaus.ratti_01Und zufällig oder nicht: Seine Ausstellung im Schaukasten Herisau, die inzwischen 31. seit dem Start im Jahr 2006, verweist schon auf die nächste und letzte Präsentation im kleinen Kubus: Roman Signers Schaukastenauftritt Ende Mai.

Bis 18. Mai, Schaukasten an der Post in Herisau, www.schaukastenherisau.ch