Eine junge Frau, Töchterchen des Hufschmieds, wirft sich einem ihr unbekannten Ritter zu Füssen und verfolgt ihn überall hin, bis auf sein Schloss. Der versucht sie mit allen Mitteln loszuwerden. Ein klassischer Fall von Stalking – allerdings sehr klassisch: Die Geschichte spielt im Mittelalter, der Text stammt aus der Romantik, das Happyend aus der Geschlechtermottenkiste. Will man das heute noch spielen?
Das Theater St.Gallen meint: Ja. Mit einem starken Argument: Es hat eine Schauspielerin im Ensemble, die dieses aus der Zeit gefallene Käthchen, diese so wahnhaft wie rätselhaft Liebende ideal verkörpern kann. Annabel Hertweck, im «Hemdchen», wie Kleist notorisch betont, ist glaubhaft in ihrem Unwissen wie in ihrer Unbedingtheit. Sie tut, was sie tun muss, sie kann nicht anders, in jeder Minute. Ob wütend oder schweigend, unterwürfig, triumphierend, ihren Friedrich anhimmelnd, todesmutig in der «Feuerprobe» oder listig im Gebet zu einem Gott, der mit sich dealen lässt: Alles glaubt man diesem Käthchen.
Es geht ans Herz, das Spiel von Annabel Hertweck. Und um sie herum stürzt sich das Ensemble mit Verve und Können in den anspruchsvollen Kleist-Kosmos: Pascale Pfeuti und Diana Dengler sind die doppelte Kunigunde, Marcus Schäfer spielt Gräfinmutter, Rheingraf, Käthchens Papa und den tennisspielenden Kaiser. Jonathan Fink amüsiert als täppisch-sympathischer Diener Gottschalk, und Gast Andrej Agranovski imponiert in der Rolle des Grafen Friedrich Wetter vom Strahl nicht nur schauspielerisch, sondern auch musikalisch. Friedrich und Kunigunde (Pascale Pfeuti) im vierhändigen Liebesspiel auf dem drehenden Flügel: Das ist Musik-Theater vom Feinsten.
Mit allen Mitteln
In so überzeugender Besetzung liesse sich Kleists Käthchenvon Heilbronn auch mit konventionellen Sprechtheatermitteln spielen – zumindest über weite Strecken, bis auf das unsägliche Happyend des Originals. Aber das Karlsruher Gastteam um Regisseurin Anna Bergmann und Dramaturgin Anna Haas traut dem mehr als zweihundertjährigen Text nicht ganz. Und greift ihm mit allen verfügbaren Theatermitteln unter die Arme.
Das Resultat ist Schauspiel plus eine ordentliche Ladung Kino, Fecht-Akrobatik, Pyrotechnik, Musical. Dem Ensemble und den Werkstätten wird alles abverlangt, das Publikum unterhält sich bestens. Die Regie strafft die Szenen und verknappt das Personal. Im Gegenzug öffnet sich der Zeithorizont zum Epochenbilderbogen, vom Mittelalter über Barock, Romantik und frühes zwanzigstes Jahrhundert bis ins Heute, illustriert mit einem Wirbel an zeittypischen Kostümen (Lane Schäfer).
Sophie Lux steuert Videos mit Kinoqualität bei; mal, wie im zentralen Traumdialog, sieht man die Liebenden live und überlebensgross, mal flimmern Wald, See oder Schloss vor unseren Augen. Üppige, nicht immer kitschfreie Musik- und Lichtdesigns (Heiko Schnurpel, Andreas Enzler) geben zusätzlichen Drive.
Schwung hat auch die Bühne von Alex Gahr. Vorne drehen drei Spielflächen samt weissem Flügel, die Hauptbühne dahinter ist eine ebenfalls drehende Treppenskulptur, die ihre Inspiration im dritten Akt, dem Romantikteil verrät: Da türmen sich die Stufen zu Caspar David Friedrichs Eismeer auf, zuoberst in Friedrich’scher Wandererpose Marcus Schäfer als Käthchens Vater.

Kein Bock mehr auf Macho-Männer: Käthchen (Annabel Hertweck) und Graf Wetter vom Strahl (Andrej Agranovski). (Bild: pd/Toni Suter)
Poesie und Splatter
Solche Bühnenpoesie passt zu einem Stück, dessen Triebfeder eine Traumerzählung ist – atypisch für den Rationalisten Kleist, der sich mit 34 Jahren aus Verzweiflung über die letztliche Unerklärbarkeit der Welt das Leben nahm. Käthchen und Friedrich hatten zu Silvester den gleichen Traum einer nächtlichen Begegnung, begleitet von einem himmlischen Cherub. Und sind seither füreinander bestimmt, zumindest nach Käthchens Überzeugung, während Friedrich der Sache erst traut, als sich das vermeintliche Bürgermädchen als Tochter des Kaisers erweist.
Nicht mondbeschienene Romantik, sondern blutige Splatterästhetik stand dagegen der doppelten Kunigunde Pate, zwei glatzköpfige Zombies mit fleischfarbenem Kostüm, spitzknochigen Schultern, gnadenloser Wirbelsäule. Für Momente kippt die Inszenierung ins Karikaturistische, aber Pfeuti und Dengler retten den ernsten Kern: die Tragik der Frauen im Korsett ihrer Geschlechterrolle, Gegenspielerinnen und Leidensgenossinnen in einem.
Definitiv in der Gender-Gegenwart kommt das Stück im Finale an. Alles ist parat zur Hochzeit, da schmeisst Annabel Hertweck den Kleist hin und reisst sich von ihrem «Dude» los, Schluss mit dem braven Käthchen-Mädchen, dessen «Geschichte wieder mal marginalisiert wird». Diana Dengler, eben noch in einem wilden Zweikampf von ihrer jüngeren Kunigunde-Konkurrentin erstochen und stranguliert, kommt ihrerseits ins Leben zurück, knallt mit Föhn-Pistole die Männer «piff-paff-puff» ab und wettert wortgewaltig darüber, dass alternden Frauen bloss noch die Hexen-und-Horror-Rollen bleiben – nicht nur auf dem Theater.
Den emanzipatorischen Soundtrack liefert schliesslich Pascale Pfeuti mit Zeilen der US-Songwriterin Sofia Isella: «Everybody wants you to love yourself - until you actually do it». Die drei Frauen feiern Party, während den dergestalt in den Senkel gestellten toxischen Männern nicht mal mehr eine Nebenrolle bleibt, geschweige denn die Chance zur Läuterung. Heftiger Applaus.
Theater St.Gallen, nächste Vorstellung: 29. März, weitere Termine bis 5. Juni.